Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
gleich schnell, doch Miley kann über die Dächer abkürzen. Nach wenigen Metern scheint er genau über Lilli-Thi zu schweben, ja, er schwebt wirklich, er springt ab und für den Bruchteil einer Sekunde sieht es aus, als könnte er fliegen, der Mond zeichnet ein flirrendes Licht um seinen Körper, dann streckt er sich und breitet die Arme aus und reißt Lilli-Thi zu Boden. Ein Schrei wie der eines Raubvogels gellt in meinen Ohren, hart und schrill. Dann bin ich auch schon über ihnen. Ich ramme Lilli-Thi mein Knie in den Rücken, fasse in ihr Haar und reiße ihren Kopf zurück, mit der anderen ziehe ich das Initiationsmesser aus dem Gürtel. Ein alles verschlingender Hass tobt in meiner Seele. Ich drücke ihr das Messer an die Kehle, der Drang, sie zu töten, spült alle anderen Gedanken weg, denn ich kann sie töten, die Kraft liegt in mir. Ich bin die mächtigste Hüterin, die jemals existiert hat, ich bin die, auf die alle gewartet haben, die sie fürchteten, deren Ankunft geweissagt wurde. Ich bin die, die alles zu Ende bringen wird. Es gibt kein Zurück mehr. In Zeitlupe rappelt sich Miley auf. Er sieht das Messer an Lilli-This Kehle und der Ausdruck in meinem Gesicht lässt ihn zurückweichen. Ein weiterer Aufschrei Lilli-This zerreißt den Augenblick.
»Soll sie doch Lilli-Thi töten!«
Ich spüre, wie sich das Messer wie von selbst in ihre Haut ritzt, und das Wort »töten« schlägt unbarmherzige Wellen. Ich will töten. Ich will sie sterben sehen. Ich will ihr Blut auf meinen Händen spüren und Rache nehmen. Für Granny! Für Emma! Für meine Liebe zu Miley! Es ist genug. Das ist das Ende.
»Nur zu!« Ihre Stimme ist schrill. »Soll sie Lilli-Thi endlich töten! Das ist das Schicksal der Dienerin! Sie wird durch die Hand der Hüterin sterben!«
… doch wenn sie durch die Hüterin stirbt, der Hüterin Hand das Schicksal verdirbt …
Meine Gedanken überschlagen sich, doch meine Hand zittert nicht. Schon perlt der erste Blutstropfen Lilli-This weißen Hals hinab und verliert sich im Kragen ihrer Lederjacke. Ihr Blut benetzt meine Finger und lässt die Schneide des Messers dunkel werden, als hätte ich sie über einer Kerzenflamme geschwärzt. Ihr Atem ist gepresst.
»Nur zu. Nur zu. Die Dienerin kennt keine Angst. Sie ist bereit.«
Durch die Strähnen meines wirren Haars blicke ich zu Miley. Seine Lippen formen immer wieder dieselben Worte, doch ich kann sie nicht entziffern, ich kann nicht hören, was er sagt, sosehr ich es auch will. Ich spüre nur den Wunsch zu töten, das Messer in Lilli-This Kehle fahren zu lassen, erst dann kann ich Ruhe finden. Ich spüre Schweiß über mein Gesicht laufen, sekunden-, minutenlang, bis ich feststelle, dass es keine Schweißtropfen, sondern Tränen sind. Mileys Hand legt sich auf meine.
»Ich liebe dich«, formen seine Lippen. Wieder und wieder.
42
Indie
W ie aus dem Nichts taucht er auf, doch er beachtet uns nicht, so sehr ist er auf seine Aufgabe fokussiert. Auch er weicht allen Kämpfenden aus, indem er den schmalen Gang zwischen den Wagenrückwänden entlangläuft. Pius auf der Suche nach Lilli-Thi. Pius, der anscheinend inzwischen die rechte Hand der Dienerin geworden ist. Es ist hier so eng, dass er nicht an uns vorbeikann. Ich habe kein Mitleid mit ihm, es ist sein Wunsch, es ist sein Wille, gegen das Gute zu kämpfen. Ruckartig beende ich das Gerangel mit Gabe und setze zu einem Sprung an. Mit einem riesigen Satz lande ich direkt vor Pius.
»Woa, woa, woa …«, stößt er atemlos hervor, nimmt sofort eine Kampfstellung ein, leicht in die Knie, die Arme verteidigend vor dem Gesicht, Kinn gesenkt. Seine Augen fliegen von meinem Gesicht zurück zu einem imaginären Ziel hinter mir. »Schon lange nicht mehr gesehen«, flüstere ich leise und merke selbst, wie drohend das klingt.
»Lass mich vorbei«, sagt er cool. Er atmet schwer, all seine Gedanken scheinen dahinzugehen, dass er Lilli-Thi finden muss.
Einen klitzekleinen Moment hebe ich nur die linke Augenbraue. Plötzlich bin ich voller Energie. Ich kann es gar nicht glauben, Gabe auf meiner Seite zu haben.
»Coole Mission, Süßer?«, frage ich und fixiere ihn. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass ich stärker als er bin, werde ich nicht den Fehler machen und ihn unterschätzen. Dann wirble ich mit einer schnellen Bewegung einmal um mich selbst. Pius ist so verwirrt, als sich gleichzeitig in meiner Drehung mein Bein hebt und mein Fuß seinen Kopf streift, dass er wortlos zurücktaumelt.
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