Dark Bd. 1 - Prinz der Dunkelheit
ducken sollen, aber Sageous’ Augen blickten sanft. Sie waren braun und ruhig, erinnerten mich an die Kühe auf der Burgstraße. Das Beunruhigende war die Tiefe, in die dieser Blick reichte. Irgendwie schien er sich durch meine äußere Schale zu graben, vielleicht mit Hilfe der Schrift unter den Augen. Ich kann nur sagen: Für einige lange Sekunden sah ich nichts als die Augen des Heiden, hörte nur seinen Atem und stand, ohne einen Muskel zu rühren, bis auf den meines Herzens.
Er ließ mich los, wie einen Fisch, den man zurück ins Wasser wirft, weil er für den Topf zu klein ist. Von Angesicht zu Angesicht standen wir uns gegenüber, nur wenige Zoll voneinander entfernt, ohne dass ich mich daran erinnerte, so nahe an ihn herangetreten zu sein. Aber ich war zu ihm gekommen, und wir standen inmitten der Bücher. Die klugen Worte von zehntausend Jahren umgaben uns. Platon zu meiner Linken, kopiert, kopiert und nochmals kopiert. Die »Moderne« zu meiner Rechten: Russel, Popper, Xiang und die anderen. Eine leise Stimme in mir, ganz tief in mir, rief nach Blut. Aber der Heide hatte mir das Feuer genommen.
»Offenbar verlässt sich mein Vater auf dich, Sageous«, sagte ich. Meine Finger zuckten und verlangten nach dem Schwert. »Ein Heide am Hof dürfte den Priestern ein Dorn im Auge sein. Wenn der Papst es heutzutage wagen würde, Rom zu verlassen … Er käme hierher, um deine Seele zu ewigem Höllenfeuer zu verdammen!« Ich hatte nichts anderes als das Dogma, um ihn zu schlagen.
Sageous lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, als hätte ich gerade eine Besorgung für ihn getan. »Willkommen zu Hause, Prinz Jorg.« Er sprach ohne richtigen Akzent, doch seine Worte waren fließend und melodisch, wie bei einem Sarazenen oder Mauren.
Er war nicht größer als ich – wahrscheinlich überragte ich ihn um einen Zoll. Außerdem war er dünn. Ich hätte ihn packen, zu Boden werfen und das Leben aus ihm herauswürgen können. Ein mörderischer Gedanke nach dem anderen kam nach oben und verschwand wieder.
»Du hast viel von deinem Vater in dir«, sagte Sageous.
»Hast du auch ihn gezähmt?«, fragte ich.
»Man zähmt keinen Mann wie Olidan Ankrath.« Das freundliche Lächeln gewann etwas Amüsiertes. Ich hätte den Witz gern verstanden. Sageous konnte mit mir fertigwerden, aber nicht mit meinem Vater? Oder war er zwar imstande, den König zu manipulieren, zog es aber vor, mit einem Grinsen darüber hinwegzugehen?
Ich stellte mir den tätowierten Kopf des Heiden von den Schultern geschnitten vor, das Lächeln erstarrt, und Blut, das aus dem Halsstumpf floss. In dem Augenblick ergriff ich das Schwert und steckte meine ganze Willenskraft hinter diese Bewegung. Der Knauf fühlte sich kalt an. Ich wölbte die Finger ums Heft, aber bevor ich richtig zufassen konnte, sackte meine Hand wie etwas Totes nach unten.
Sageous wölbte eine Braue – seine Brauen waren haarlos wie der Kopf und ebenfalls tätowiert. Er wich einen Schritt zurück.
»Du bist ein interessanter junger Mann, Prinz Jorg.« Das Sanfte verschwand aus seinen Augen, und der Blick wurde hart und scharf. »Wir müssen herausfinden, was dich antreibt, nicht wahr? Ich lasse dich von Robart zu deinem Zimmer führen; du musst müde sein.« Während er sprach, folgten die Finger der rechten Hand den Worten auf dem linken Arm, glitten über ein Symbol, sprangen weiter nach oben zu einer schwarzen Mondsichel, unterstrichen einen Satz und unterstrichen ihn dann noch einmal. Ich war tatsächlich müde. Ich fühlte Blei in allen Gliedmaßen, eine Schwere, die mich zu Boden zog.
»Robart!«, rief Sageous durch den Flur.
Dann wandte er sich wieder an mich, erneut mit sanftem Blick. »Bestimmt hast du Träume, Prinz, nachdem du so lange fort gewesen bist.« Seine Finger strichen über neue Zeilen, die linke Hand am rechten Arm. Sie folgten den Konturen von Worten am Handgelenk, schwärzer als die Nacht. »Träume sagen einem Mann, wer er ist.«
Ich strengte mich an, die Augen offen zu halten. An Sageous’ Hals, unmittelbar links von seinem Adamsapfel und inmitten all der dicht an dicht gedrängten Schriftzeichen, bemerkte ich einen Buchstaben größer als die anderen, so verschnörkelt, dass er wie eine Blume wirkte.
Berühr die Blume, dachte ich. Berühr die hübsche Blume. Und wie durch Magie bewegte sich meine verräterische Hand. Meine Finger an seinem Hals, das überraschte ihn. Ich hörte, wie sich die Tür hinter mir öffnete.
Er ist dünn, dachte ich.
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