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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Graffiti beschmiert. Wer kein Geld für Farbe besaß, bemalte seine Wände mit Kohle. Vor einem Haus, das wie unbewohnbar wirkte, weil etwas Schweres das Dach eingedrückt hatte wie eine Pappschachtel, hatte man ein helles Tier angepflockt. Eine Ziege vielleicht? Ich sah genauer hin und im nächsten Moment bereute ich es zutiefst. Das war gar kein Tier. Es war ein Mensch, ein junger Mann mit bloßem Oberkörper, an Ketten an einen Pfahl gefesselt.
    »Bei der Sonne«, entwich es mir ungewollt.
    Der Mann sah nicht auf, als wir näher kamen. Er starrte zu Boden. Wenn er nicht gezittert hätte, hätte ich annehmen müssen, er wäre tot. Seine Schultern waren grün und blau geprügelt, am Rücken teilten blutunterlaufene Striemen seine Haut.
    »Geh weiter, Joy.« Neél atmete flach, ich bemerkte, warum. Der Mann hockte in seinen eigenen Ausscheidungen. Selbst ich konnte es trotz der Entfernung von mehreren Metern riechen.
    Ich versuchte, stehen zu bleiben, aber Neél griff mich am Arm und zog mich unerbittlich mit sich.
    »Wir können nicht einfach weitergehen«, zischte ich. »Der arme Kerl ist dort festgebunden wie ein Tier. Wir müssen -«
    »Du kannst nichts tun«, sagte Neél schlicht.
    Du. Nicht wir. Wollte er dem Mann gar nicht helfen? War es ihm egal, was hier vor sich ging?
    Ich versuchte, mich von Neél loszureißen, aber er verstärkte den Griff um meinen Arm.
    »Du tust mir weh, verdammt noch mal!«
    Er fuhr zu mir herum. »Dann reiß dich jetzt zusammen! Das hier ist eine gefährliche Gegend, auch für mich. Die Männer, die hier leben, haben nichts zu verlieren.« Jedes Wort verriet seine Anspannung. Er bestand nur noch aus harten Muskeln und zog mich gnadenlos weiter.
    Mir blieb keine Wahl, ich musste hinter ihm herstolpern. »Das kann doch nicht erlaubt sein«, wimmerte ich.
    »Du hast keine Ahnung.«
    »Bitte, Neél. Ich binde ihn los. Keiner sieht mich. Wir müssen ihm wenigstens eine Chance geben.«
    Neél schnaubte abfällig. Hinter einem Fenster bewegte sich eine dunkle Silhouette. Neél ging schneller. »Der Junge würde dich überwältigen und für ein paar Privilegien seinem Herrn übergeben.«
    »Unsinn!« Ich schrie beinahe und riss an meinem Arm, aber alles, was ich erreichte, war, dass Neéls Finger sich schmerzhaft in meine Haut gruben. »Neél, bitte! Du kannst doch nicht erwarten, dass ich das einfach akzeptiere.«
    »Wenn ich gewusst hätte, dass du so was zu sehen bekommst, wäre ich nie mit dir hergekommen«, sagte er leise. Irgendwo polterte etwas, jemand grölte. Ein Hund kläffte, winselte hoch auf und war still. »Aber du wolltest es, es war dir wichtig. Ich bitte dich nur um eins: Mach keine Dummheiten. Du hast in diesem Viertel schneller den Wert eines Stück Schlachtviehs, als du meinen Namen rufen kannst. Bleib an meiner Seite und verhalte dich still.«
    Resigniert trottete ich hinter ihm her. »Warum mussten wir herkommen? Warum hier her?«
    »Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte er gepresst. Es klang düster und unheilvoll. »Den Treffpunkt hat Widden vorgeschlagen. Und Widden überlässt nichts dem Zufall. Wir sind - nein, du bist - aus einem bestimmten Grund hier.«
    Ich wischte mir die feuchten Hände an meinem Hemd ab. »Und der wäre?«
    »Du sollst das Elend sehen. Du sollst sehen, wie jene leben, die im Chivvy versagen.«
    »Du kannst ihm ausrichten, dass man blind sein müsste, um das nicht zu sehen.« Meine Worte waren durchaus als Angriff gedacht, aber sie schienen an ihm abzuperlen.
    Wir gingen um eine Häuserecke, eine Gruppe ungepflegt erscheinender, junger Varlets kam uns entgegen. Als sie Neél sahen, stießen sie sich gegenseitig an und rannten davon. Sie hatten die Straßenlaternen ausgetreten, sodass wir durch die Dunkelheit gehen mussten.
    Neél ließ meinen Arm los. Ich blieb stehen, rieb über die schmerzende Stelle und fühlte mich schrecklich alleingelassen. Von ihm, ja, aber vor allem von mir selbst, weil ich nicht den Mut fand, zurückzulaufen und den Mann zu befreien. Neél ging langsamer, aber er wandte sich nicht zu mir um.
    »Komm schon, Joy«, sagte er leise. Und ich kam. Ich hasste mich dafür, denn es war falsch, aber ich trottete hinter ihm her und versuchte, nicht länger an diesen armen Teufel zu denken. Ich würde Amber sehen. Es war kein guter Trost, bloß eine bittere Ablenkung.
    Wir gingen weiter und mit einem Mal hörte ich aus einiger Entfernung eigenartige Laute.
    »Was ist das?« Ich reckte den Hals, ohne mehr zu erkennen als viele

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