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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Schulstunden schmerzte, aber ich hielt mich daran fest. Vor wenigen Wochen hatte Laurencio mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, seinen Platz einzunehmen. Kinder unterrichten - was für eine Vorstellung. Ich hatte nicht abgelehnt, aber auch nicht Ja gesagt. Es war eine zu große Verantwortung, Kindern das Lesen beizubringen, das Schreiben und das Rechnen, das so wichtig war, so existenziell in unserem Kampf, weil Strategie alles war und nur aus einem guten Rechner ein guter Stratege werden konnte. Ihnen die alten Geschichten zu erzählen, die Geschichten der Menschen.
    Ich rief mir jede, die ich kannte, ins Gedächtnis. Und begriff, dass ich auch in dieser Hinsicht versagen würde, sollte ich sterben. So wenige kannten die Geschichten. So wenige erzählten sie weiter. Wenn ich starb, nahm ich einen Teil unserer Geschichte mit in den Tod, ohne sie zuvor weitererzählt zu haben.
    • • •
    Ich hörte Stimmen und glaubte, eine weibliche darunter zu erkennen. Rasch kam ich auf die Füße und huschte zur Tür. Sie hatte eine Luke in Augenhöhe, doch diese ließ sich nur von außen öffnen. Ich legte das Ohr an das Metall. Tatsächlich, da sprach eine Frau und da es weibliche Percents nicht gab, musste sie ein Mensch sein.
    »... wird sich schon das Richtige dabei gedacht haben«, verstand ich.
    Ein Mann antwortete: »Er straft mich. Er will mich am Boden sehen, nur darum geht es.«
    »Da kennst du ihn schlecht. Daran liegt ihm überhaupt nichts.«
    »Willst du bestreiten, dass er wütend auf mich ist?«
    »Nein, das nicht. Aber versuch doch, ihn zu verstehen. Er will dich beschäftigt wissen. Die neuen Varlets werden aufgeteilt. Cloud hat viel Arbeit. Er befürchtet, dass du die Situation ausnutzt und -«
    »Lass gut sein, Mina.« Ein Seufzen. »Zu lamentieren hat ohnehin keinen Sinn. Wenn Cloud mich demütigen will, soll er das tun. Es ist sein Recht.«
    »Und was hast du jetzt mit dem Mädchen vor?«, fragte die Frau zögerlich. Sie klang, als wollte sie es eigentlich gar nicht wissen. Ich aber musste es wissen!
    »Sie muss sich erst mal waschen. Sie stinkt so sehr, dass ich es bis hierher riechen kann. Und dann darf ich ihr klarmachen, was sie erwartet. Ich habe ja auch nichts Besseres zu tun!«
    Etwas knallte gegen die Tür - vermutlich seine Faust. Ich wich erschrocken zurück und konnte nicht mehr verstehen, was die Frau erwiderte. Wenig später klapperte ein Schlüssel im Schloss und die Tür wurde geöffnet. Ich machte noch einen weiteren Schritt zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Mit aufeinandergepressten Zähnen sah ich ihm entgegen. Seine schlitzförmigen Pupillen verliehen ihm eine kalte, reptilienhafte Boshaftigkeit, obwohl er mich musterte, ohne eine Miene zu verziehen. Ich ließ mir keine Angst anmerken. Dass ich furchtlos aussehen konnte, wusste ich. Menschen gegenüber reichte das aus, um ihnen Angst zu machen. Ihn schien es herauszufordern.
    Wir starrten uns an. Sein Blick war Frost auf grauem Stein. Er war groß, selbst für einen Percent, und seine Züge schienen ausgeprägter, die Linie seiner Schläfen schärfer. Weil die Unterschiede zwischen ihnen normalerweise winzig waren, fiel das besonders auf. Sein schwarzes Haar war streng zurückgekämmt und zu einem kurzen Zopf zusammengefasst. Meins klebte mir in verschwitzten Strähnen im Gesicht. Seine Gesichtshaut war ebenmäßig, wie aus Holz geschnitzt und dann poliert. Meine bleich, an anderen Stellen gerötet, besudelt von Dreckschlieren und Tränenspuren.
    Je länger er mich anstierte, desto mehr Wut staute sich in mir auf. »Du willst mich zu Tode glotzen, he?«
    Hatte ich das wirklich gesagt? Hatte ich gerade einen Percent provoziert, dem ich ausgeliefert war? Seine Kiefermuskeln traten hervor und ich erkannte, dass ich gar nicht so hilflos war. Ich konnte ihn reizen, und das machte mir Mut. Er war nicht allem überlegen wie der schreckliche Cloud. Der Varlet vor mir zeigte Emotionen. Er trat vor, aber ich war fest entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen.
    »Was?«, setzte ich nach. »Hast du nichts Besseres zu tun, als hier rumzustehen und mich anzugaffen? Was immer du vorhast, mach es heute noch.«
    Flatsch.
    Die Backpfeife erwischte mich völlig unerwartet. Ich hatte nicht einmal gesehen, dass er sich bewegte. Mein Ohr klingelte, meine Wange brannte. Ich blieb aufrecht stehen. Mein Gesicht war zur Seite geschleudert worden, aber ich drehte es ihm wieder zu. Unvernünftig? Bestimmt. Ich hatte nicht die

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