dark canopy
mir überhaupt nichts. Zumal er unrecht hatte. Ich war sehr wohl aufmerksam gewesen.
»Ich habe einen verkrüppelten Ahorn gesehen«, erwiderte ich. »Mit einem Seil erreiche ich die unteren Äste, sie reichen so weit über den Fluss, dass man den Rest springen kann. Und hundert Meter zuvor sieht man an der Farbe und der Bewegung des Wassers, dass es dort nicht tief ist. Vermutlich liegen Steine auf dem Grund und bestimmt kann man den Fluss an der Stelle überqueren. Im Übrigen kann ich schwimmen.«
»Sonst noch etwas?«
»Durchaus.« Ich hatte Mühe, ruhig zu klingen. Lieber hätte ich ihn angefaucht. »Ich habe Pilze unter dem Laub gesehen. Kleine, bittere Pilze, die bis zum Herbst aufschwemmen, dann verwesen und stinken wie verfaulter Fisch. Damit können wir euren Geruchssinn verwirren. An der Haut pappender Lehm funktioniert fast genauso gut.« Ich deutete mit dem Kinn ans Ufer. »Den findet man hier überall, wo das Wasser gern über das Flussbett tritt.«
Neél nickte mit verzogenem Mund. »Nicht schlecht.«
»Natürlich nicht«, gab ich zurück. »Ich bin Rebellin, keins der verweichlichten, verschreckten, armen Mädchen aus der Stadt, die sich eure Spielchen antun.«
Er sah mich missbilligend an. »Genau deshalb«, sagte er sehr leise und sehr kalt, »spielen wir diese Spielchen auch mit dir statt mit den armen Stadtmädchen.«
Er hat dich in der Hand, schon vergessen ? Und er genoss es.
Ich hatte ihm zu viel gesagt. Ich hatte ihm Dinge verraten, die meine Chancen gefährden würden, wenn er sie an die anderen Percents weitergab. Wie konnte ich nur glauben, dass er meine Flucht plante? Wie konnte ich ihm vertrauen? Deutlicher hätte er es nicht sagen können - ich war nur ein Spielzeug.
Wir fanden eine Brücke, die noch ausreichend instand schien, sodass wir es wagten, die Pferde darüberzuführen, und ritten auf der anderen Seite weiter.
Die Gedanken über den dummen Fehler nahmen mich so sehr gefangen, dass meine Aufmerksamkeit nachließ und ich kaum noch auf die lebensrettenden Details der Umgebung achtete.
Das Flussufer wurde unpassierbar, als sich dornige Büsche vor uns breitmachten. Wir ließen uns von einem Trampelpfad leiten und erreichten das Ende des Waldes. Brachliegende Felder erstreckten sich über ein paar seichte Hügel. Wir überquerten sie im Trab und kamen zu den von Unkraut durchbrochenen Resten einer Straße. Brennnesseln, Heidebüsche und Brombeersträucher hatten sich schon darangemacht, den Asphalt unter sich zu begraben, aber man erkannte doch, dass die Straße einmal breit gewesen sein musste. In ihrer Mitte zeigten sich an manchen Stellen noch die Schatten heller Streifen, als hätte jemand eine weiße Linie gezogen, um wieder heimzufinden.
»Folgen wir ihr ein Stück«, entschied Neél. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er die Straße entlang. Ich ahnte, dass er dort etwas sah, und ärgerte mich, weil seine Augen besser waren als meine. Ich erkannte nur Schemen. Vielleicht Bäume, vielleicht Wolken, vielleicht Häuser.
Wir ritten parallel zur Straße über die Felder, wo wir die Pferde galoppieren lassen konnten. Neél achtete sehr aufmerksam auf das, was vor uns lag. Er vermutete womöglich, dass sich dort Menschen befanden. Aber er wusste nicht, dass er dafür in die falsche Richtung blickte. Ich wusste besser, wohin man schauen musste: auf die Felder und die kleinen Triebe, die dort wuchsen. Natürlich trieb auch auf einem vergessenen Feld, zusammen mit etlichen nutzlosen Pflanzen, immer noch etwas Saat aus. Allerdings selten nach Sorte getrennt und in ordentlich ausgesäten Rechtecken. Und woher kamen wohl Strohreste, wenn nicht von Menschen, die versuchten, ihre Saat damit vor spätem Frost zu schützen? Der Percent hatte sicher noch nie auf einem Acker gearbeitet, er nahm die kaum erkennbaren Anzeichen von menschlichem Leben nicht wahr. Ich dagegen hätte sie selbst im Dunkeln gefunden. Allerdings wusste ich nicht, wer diese Menschen waren. Rebellen, ganz klar. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob ein Clan auf diese Gegend Anspruch erhob; geschweige denn, welcher. Womöglich ein mir feindlich gesinnter? Vielleicht würde ich es noch erfahren. So diskret, wie Rebellen Spuren ihres Lebens hinterließen, so fein markierten sie auch ihre Grenzen. Wenn man wusste, worauf man achten musste, fand man Hinweise, die so deutlich wie persönliche Signaturen waren. Menschen, die nicht in Clans lebten, konnten noch gefährlicher sein, denn viele von ihnen
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