Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
besser, als dorthin zurückzukehren.»
«Was ist mit deinen Eltern?», erkundigte sich Miro.
«Ich weiß es nicht», sagte das blinde Mädchen und schob sich eine rostbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. «Onkel Fingal und seine Frau haben mich als Baby in einem Korb vor ihrer Haustür gefunden. Onkel Fingal wollte mich gleich in ein Waisenhaus bringen, aber seine Frau drängte so lange, bis er nachgab und mich aufnahm. Mutter hat mich geliebt wie ein eigenes Kind. Und Onkel Fingal hat mich geduldet wie eine lästige Fußwarze. Vor zwei Jahren ist meine Mutter gestorben, und Onkel Fingal hat mich nur noch wie ein Stück Dreck behandelt.»
«Wow», meinte Ephrion mitfühlend. «Du hast es echt übel getroffen, Aliyah. Und wer deine leiblichen Eltern sind, hast du nie herausgefunden?»
«Nein. Und wahrscheinlich werde ich es auch nie erfahren.»
«Ey, der weiß doch bestimmt was! Ich könnte die Information aus ihm herausprügeln», schlug Joash knirschend vor. «Du brauchst es nur zu sagen, Kleine. Es wäre mir ein großes Vergnügen, ihm ein wenig Anstand beizubringen.»
«Danke, Joash, aber lass nur. Es wäre ohnehin nicht gut, jetzt nach Hause zu gehen, für keinen von uns. Da wimmelt es bestimmt nur so von Drakars Soldaten.»
Ephrion schaute ganz bekümmert drein bei der Vorstellung, wie bewaffnete Soldaten ihre kleine Wohnung im fünften Stock stürmten. Vielleicht würden sie seine Familie gar seinetwegen mit Lichtentzug bestrafen. Und seine Eltern würden sich zu Tode ängstigen. Er mochte gar nicht daran denken, was sie seit seinem Verschwinden alles durchgemacht hatten. Und er wusste nicht einmal, ob er seine Mutter, seinen Vater und seinen kleinen Bruder jemals wiedersehen würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm beinahe schlecht, und er war ganz froh, als Miro das Wort ergriff und sagte:
«Genug rumgestanden. Wir sollten weiter. Ist nicht mehr weit bis zur Brücke.»
Langsam wichen die hohen Wohnblöcke kleineren zweistöckigen Häusern, und anstelle von Gassen aus Pflastersteinen gab es jetzt vermehrt Straßen aus festgetrampelter Erde. Sie näherten sich dem Stadtrand. Der Nebel war hier weniger dick, und irgendwie hatte Ephrion den Eindruck, die Leute würden etwas aufrechter gehen als die Menschen in der Stadtmitte. Aliyah spürte eine gewisse Entkrampfung in ihrem ganzen Körper, so als würden sie aus einer Glocke von Bedrücktheit und Melancholie herausschreiten.
Miro trat in Hundekot und hob fluchend seinen Stiefel hoch. Wie ich diese schmutzigen Straßen hasse!, dachte er mit einem angewiderten Blick auf seinen Schuh. Er versuchte, den Kot am Bordsteinrand abzustreifen, doch es gelang ihm nicht so richtig und der Gestank blieb. Miro musste unwillkürlich an die sechsrädrige Kutsche seines Vaters denken, mit Minibar, gepolsterten Ledersitzen und eigenem Chauffeur. Das war etwas völlig anderes, als sich zu Fuß fortbewegen zu müssen wie das einfache Gesindel. Noch nie in seinem ganzen Leben war Miro so weit zu Fuß gelaufen wie in den letzten Tagen. Und das auch noch freiwillig! Der Achtzehnjährige seufzte gequält. Was man doch nicht alles auf sich nimmt, um ein Held zu sein, dachte er voll von aufopferndem Selbstmitleid, während er versuchte, den Schmerz seiner geschmeidigen Fußsohlen zu ignorieren – und das Düftchen, das ihm von unten in die Nase stieg.
Sie erreichten die Brücke, oder besser gesagt: den Übergang, von dem Joash gesprochen hatte. Und jetzt kapierten sie auch, warum Joash glaubte, hier keine Soldaten anzutreffen: Die Brücke war nichts weiter als ein riesiges, mindestens fünf Fuß dickes, verrostetes Rohr, das über den Toten Fluss führte.
«Da sollen wir rüber? Nie im Leben!», rief Miro entsetzt.
«Wir können auch die Brücke weiter oben nehmen, wo es bestimmt nur so von Drakars Soldaten wimmelt», antwortete Joash. «Deine Entscheidung.»
Miro fluchte leise vor sich hin und fügte sich grummelnd in sein Schicksal. Sie überquerten den Toten Fluss und verließen Dark City endgültig. Als die letzten Häuser hinter ihnen vom Nebel verschluckt wurden und sich vor ihnen nichts als eine unendliche karge Ebene auftat, wurde ihnen mit einem Mal bewusst, auf was für ein gewagtes Abenteuer sie sich hier einließen. Mit all den verzweigten Gässchen und hohen Betonmauern hatte die Stadt ihnen viele Verstecke geboten. Und auch wenn sie sich darüber im Klaren waren, dass es töricht gewesen wäre, auch nur eine Stunde länger in der Stadt zu bleiben, so überkam
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