Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
sie jetzt doch ein Gefühl von Schutzlosigkeit und Ohnmacht. Gähnende Leere lag vor ihnen. Keine Häuser, keine Sträucher, nur ein von Kutschenrädern durchfurchter Weg, der mitten hinein ins Nichts führte und sich irgendwo im Nebel verlor. Die Gefährten warfen einen letzten Blick zurück auf Dark City, die Stadt, in der sie alle geboren und aufgewachsen waren, die Stadt, die für so viele Jahre ihr Zuhause gewesen war und die jetzt das Todesurteil über sie verhängt hatte.
Dann fassten sie sich ein Herz und marschierten weiter.
11
Jedes Mal, wenn sie seinen Namen aussprachen, hörte er es. Ihre Stimmen riefen nach ihm, ohne es zu wissen. Er wollte ihnen entgegenlaufen … ihnen helfen. Aber es war ihre Mission, die sie erfüllen mussten, und er konnte nichts tun, bis sie zu ihm finden würden. So sehr er sich danach sehnte, einzugreifen – ihm waren die Hände gebunden.
12
Drakar wirkte erschöpft. Sein schulterlanges schwarzes Haar ließ sein farbloses schmales Gesicht noch blasser erscheinen. Eine Silbersträhne hing ihm wirr in die hohe Stirn. Der schlanke Zweiundzwanzigjährige trug schwarze enganliegende Hosen aus einem schimmernden Gewebe, eine ärmellose Weste mit großen Metallschnallen, schwarze Lederhandschuhe und grobe, auf Hochglanz polierte Stiefel, die ihm bis zu den Knien reichten. Zwei mächtige Spangen bedeckten seine gesamten Unterarme. Die Knöchel auf die groben Steine des Erkerfensters gestützt, stand der junge König mit gebeugten Schultern da und starrte mit trübem Blick in die Dämmerung hinaus.
Vom hohen Tufffelsen aus, auf dem sein Vater bei seinem Regierungsantritt die Burg hatte errichten lassen, hatte man früher die gesamte Stadt überblicken können. Bei klarem Wetter hatte man sogar weit im Osten die Mauer sehen können, jene gigantische, unüberwindbare Mauer, die sieben Jahre vor der großen Nebelkatastrophe fertig geworden war und einen großen Teil der Malan-Hochebene vom restlichen Teil der Insel abgrenzte, beginnend beim Schwarzen See im Süden bis hinauf zum Shirí-Gebirge im Norden. Drakar der Zweite war allerdings nie in den Genuss dieser imposanten Aussicht gekommen. Als er geboren wurde, bedeckte der Nebel bereits seit elf Jahren das ganze Land. Niemand, der nach jenem verhängnisvollen Tag zur Welt kam, als der brennende Fels vor der Küste Shaírias ins Meer stürzte, hatte jemals die Sonne gesehen, auch Drakar der Zweite nicht. Alles, was er sah, wenn er aus seiner Burg blickte, war dichter Nebel.
Drakars Burg war eine uneinnehmbare Festung, die hoch über der Stadt thronte und nur über einen schmalen, in den Fels gehauenen Weg erreichbar war. Vor dem riesigen Burgtor befand sich zudem ein jäher Abgrund, über den eine Zugbrücke führte. Das Tor wurde Tag und Nacht streng bewacht. Ohne Drakars Genehmigung konnte niemand das Burggelände betreten oder verlassen. Dennoch fand der junge König seit einigen Tagen keinen Schlaf mehr. Des Nachts wachte er schweißgebadet auf, gejagt von stets demselben Traum: dass die Burg gestürmt und ihm die Herrschaft über Dark City entrissen wurde. Es war die uralte Prophezeiung, die ihn einholte. Es war die Furcht vor der Macht des Einen, dessen Name nicht genannt werden durfte, die ihn schier in den Wahnsinn trieb.
Er hatte geglaubt, mit Isabellas Verbrennung auf dem Scheiterhaufen die Macht der Hexen ein für alle Mal gebrochen zu haben. Doch die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihm klargemacht, dass das Blatt sich gewendet hatte. Die Hexe hatte es gewusst. Er hatte es in ihren Augen gelesen, als sie ihn durch die lodernden Flammen hindurch angestarrt hatte. Nie würde er diesen Blick vergessen. Diese feurigen Augen, gefüllt mit Triumph und Siegeskraft; diese Augen, die losgelöst von der höllischen Qual des Feuers vor Stolz und Überlegenheit glühten. Und mit ihrem letzten Atemzug hatte sie den Namen ausgerufen, der seit dreiunddreißig Jahren nicht mehr in den Mauern Dark Citys ausgesprochen worden war:
Arlo.
Niemand hatte die Bedeutung ihres Todesschreis verstanden. Die Menschen im Stadion hatten gebrüllt und getobt, als Isabellas Kopf nach vorne kippte und ihr Körper in Flammen aufging. Nur Drakar hatte wie erstarrt auf der Tribüne gesessen und war in sich zusammengeschrumpft.
Arlo.
Es war also kein Märchen. Er war tatsächlich noch am Leben! Die Prophezeiung war kurz davor, in Erfüllung zu gehen. Es sei denn, Drakar würde es gelingen, sie aufzuhalten. Er musste diese Jugendlichen finden! Er
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