Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
hatten. Sogar Miro, der von Haus aus sehr verwöhnt war, was Nahrung anbelangte, war völlig platt von der Fülle der Speisen und Getränke, die sich auf der langen Tafel befanden. Er kostete Früchte, die er noch nie zuvor gesehen hatte, und selbst das, was er zu kennen glaubte, schmeckte tausendmal besser als zu Hause.
Am meisten faszinierten die Jugendlichen aber die Eier. Seit der großen Nebelkatastrophe gab es keine Hühner mehr, und es war ihnen allen ein Rätsel, wie Master Kwando zu diesen Eiern gekommen war. Überhaupt war alles an diesem Ort so wundersam und geheimnisvoll, dass die vier jungen Gäste nicht aus dem Staunen herauskamen. Aber keiner wagte es, den Master darauf anzusprechen. Seine Antwort hätte ihnen ohnehin nur ein neues Rätsel aufgegeben. Also begnügten sie sich damit, den Augenblick zu genießen und vor allem das herrliche Frühstück, das Master Kwando ihnen aufgetischt hatte. Er selbst saß mit ihnen am Tisch, trank eine Tasse Kaffee und beobachtete die Jugendlichen eine Weile schweigend.
«Ich bin sehr zufrieden», sagte er schließlich. «Ihr habt eure erste Aufgabe gut gemeistert. Euer Innerstes wurde nach außen gekehrt, und ihr habt euch äußerlich dem stellen müssen, was ihr innerlich zu verbergen suchtet. Ihr musstet einen Teil von euch abgeben oder akzeptieren, um das Training zu bestehen.» Er sah zu Miro hinüber. «Versagen.» Von Miro zu Aliyah. «Mut.» Von Aliyah zu Joash. «Opfer.»
Ephrion, der sich gerade ein paar Trauben in den Mund steckte, sah Master Kwando mit hochgezogenen Augenbrauen an.
«Was hab ich getan? … Habe ich auch einen Test bestanden?»
Der Master sah ihn liebenswürdig an und erklärte:
«Mein Schüler, die härtesten Prüfungen im Leben sind diejenigen, deren Ausgang wir nicht beeinflussen können … Dank einem Freund habt auch Ihr den Test bestanden.»
«Echt? Coooool», sagte Ephrion extra langgezogen und grinste zu Joash hinüber. «Ich mag deinen Slang. Bei Gelegenheit musst du mir mehr davon beibringen … Mann.»
Joash schmunzelte nur. «Alles klar, Ephi.»
Über ihren Köpfen zog ein Schwarm zwitschernder schneeweißer Vögel hinweg. Noch nie hatten die Jugendlichen solche Vögel gesehen. Irgendwo in weiter Ferne waren seltsame Tierlaute zu hören, ein Krächzen und Brüllen, gemischt mit den eigenartigsten Klängen, die die vier jungen Schüler jemals gehört hatten. Master Kwando fuhr mit seiner Rede fort.
«Nach dem Frühstück werden euch ein paar Onovans zu einem See begleiten, wo ihr euch waschen und entspannen könnt. Der morgige Tag wird eine große Herausforderung für euch alle sein. Um als ein Team zu funktionieren, müsst ihr fähig sein, die Lasten des andern zu tragen. Aber ihr könnt die Schwierigkeiten des andern nicht tragen, wenn ihr sie nicht kennt. Ein Team zu sein, bedeutet eins zu sein. Ihr denkt vielleicht, alleine wärt ihr stark oder klug, aber gemeinsam seid ihr stärker, gemeinsam seid ihr klüger … Ihr müsst die Leiden des andern sehen … fühlen … erleben … Erst wenn ihr fähig seid, von euch wegzusehen und für die Leiden eines andern Menschen zu weinen, wird es euch gelingen, eure eigenen Verletzungen zu überwinden.
Morgen ist der Tag der Spiegel. Genießt das Essen, esst, so viel ihr könnt, und genießt auch die Zeit am See. Genießt jeden Augenblick, denn es wird unter Umständen für sehr lange Zeit das letzte Mal sein, dass ihr die Möglichkeit dazu habt. Und denkt daran: Es ist euch noch immer nicht erlaubt, miteinander zu reden, wenn ich nicht dabei bin. Gebraucht die Energie stattdessen, um euer Herz und euren Geist zu öffnen. Konzentriert euch auf das, was heute Morgen passiert ist, und denkt darüber nach, was es bedeutet. Warum den Test bestehen, wenn die Lektion dennoch nicht gelernt wurde …»
Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, zog ihn ein Onovan in seinem Rollstuhl rückwärts vom Tisch weg und schob ihn dann Richtung Haus. Der Master nickte seinen Gästen im Vorbeifahren zu. Er wirkte müde und schwach und irgendwie noch älter als am Tag zuvor. Es schien, als würde das Training nicht nur Spuren im Leben seiner Schüler hinterlassen – sondern auch in seinem.
60
Katara stand vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und starrte durch sich hindurch. Es war halb fünf Uhr morgens, doch sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und sich stattdessen nur eine einzige Frage gestellt.
«Wer bin ich?», hauchte sie zum wohl tausendsten Mal in den Spiegel. «Sag mir, wer ich
Weitere Kostenlose Bücher