Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
kostenlos Zuckerbrot verteilen. Und sobald die Trompeten und Posaunen von seiner Burg über Dark City erschallten, strömte die ganze Stadtbevölkerung Richtung Arena. Niemand wollte sich das tödliche Schauspiel entgehen lassen. Jeder wollte sich den besten Platz ergattern und möglichst weit vorne sitzen.
Doch der beste von allen Plätzen war der zur Linken des Monarchen. Dieser war reserviert für den wirklichen Helden des Tages, nämlich denjenigen, dem es gelungen war, eine der Hexen aufzuspüren und an den König auszuliefern. Ephrion träumte davon, eines Tages selbst auf diesem Ehrenplatz sitzen zu dürfen, zur Linken Drakars, und den Siegespreis in Empfang zu nehmen, die Hand des Königs auf seiner Schulter zu fühlen und seine berühmten Worte zu hören:
«Dark City steht tief in Eurer Schuld. Ihr habt Mut bewiesen und Tapferkeit. Heute sollt Ihr als Held gefeiert werden.»
Ja, eines Tages würde auch er eine Hexe fangen und an Drakar aushändigen, das hatte er sich fest vorgenommen.
«Ephrion!», rief seine Mutter von der Küche her. «Beeil dich bitte!»
«Ich bin gleich fertig, Mutter!»
«Und hilf deinem kleinen Bruder!»
«Bin dabei, Mutter!»
Ephrions kleiner Bruder Nicolo saß mit schmollendem Mund auf seinem Bett und weigerte sich, das rote Hemd anzuziehen, das die Mutter für ihn herausgesucht hatte.
«Ich hasse dieses Hemd», war seine schlichte Begründung.
«Ich sehe furchtbar darin aus. Und alle Kinder werden mich auslachen, wenn ich dieses Hemd trage.»
«Unsinn», sagte Ephrion. «Rot steht dir ausgezeichnet. Erinnerst du dich an Seth? Der Junge von nebenan? Der mit den Segelohren? Der hat nur Rot getragen. Und der muss es ja wissen. Denn es ist gar nicht einfach, eine Farbe zu finden, die zu Segelohren passt, das sage ich dir. Aber Rot passt eben zu allem. Rot ist die Farbe für Jungen in deinem Alter.»
«Das sagst du nur, damit ich es anziehe», sagte der Neunjährige und verschränkte demonstrativ die Arme.
«Im Gegenteil», verkündete Ephrion und zog wichtigtuerisch die Augenbrauen hoch. «Wenn ich so ein tolles rotes Hemd hätte, würde ich es sofort anziehen, das kannst du mir glauben.» Er redete hastig, wie er es immer tat, und unterstrich seine Worte mit leidenschaftlichen Gebärden. Wenn Ephrion etwas beherrschte, dann war es reden – manchmal sehr zum Leidwesen der Zuhörenden. Wenn er erst einmal loslegte, war er nicht mehr zu bremsen. Hätte es ein Limit an Worten gegeben, die man täglich verbrauchen durfte, wäre sein Vorrat spätestens nachmittags aufgebraucht gewesen.
Das Zweite, in dem Ephrion Meister war, war Essen. Er liebte es, zu essen, und war auch dementsprechend wohlbeleibt. Die Kinder in der Schule spotteten oft über ihn, außer Ansgar, sein bester Freund, der ebenfalls einiges an Gewicht auf die Waage brachte und dadurch auch ein Außenseiter war, genauso wie Ephrion.
«Und dann hast du ja noch die passenden Stiefel dazu», fuhr Ephrion im Brustton des allwissenden Bruders fort, «und den Gürtel mit der Drachenschnalle, den ich dir letztes Jahr geschenkt habe. Um so einen Gürtel werden dich alle beneiden, du wirst sehen. Du wirst echt toll aussehen, kleiner Bruder.»
«Glaubst du wirklich?»
«Keine Frage.» Der Vierzehnjährige zwinkerte dem Kleinen aufmunternd zu. «Und weißt du was? Wenn du willst, leih ich dir mein Piratentuch mit dem Totenkopf vorne drauf.»
Mit diesem Argument hatte er den Bruder endgültig überzeugt. Auf einmal hatte es Nicolo sehr eilig, sich fertig anzuziehen. Voller Stolz marschierte er in die Küche, um sich den Eltern zu präsentieren. Ephrion wühlte indessen in der Schublade des Kleiderschrankes nach dem passenden Outfit für sich selbst. Er wählte seine schönsten Hosen, ein buntes Baumwollhemd und seine Lieblingsjacke aus dunkelblauem Segeltuch. Mit seinem goldblonden verstrubbelten Haar und den hellblauen Augen sah er trotz seiner pummeligen Figur richtig frech aus, und genauso wollte er an diesem Morgen auch aussehen. Für eine Hexenverbrennung genau das Richtige , dachte er. Was für ein Spaß wird der heutige Tag doch werden!
Zuletzt hängte er sich seine Halskette um. Es war eine Kette aus Stahl mit einem besonderen Anhänger, einem gezackten Metallstück. Dieses Teil war Ephrions ganzer Stolz. Sein Vater hatte es vor vielen Jahren in einer großen Mülltonne in der Fabrik gefunden, wo er arbeitete. Es war nichts weiter als ein Stück Altmetall gewesen, ein weggeworfener Metallsplitter, der zu nichts
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