Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
kleine Katze.
«Wir hatten ein kleines Häuschen mit Strohdach direkt am Waldrand. Des Nachts hörte man die Frösche quaken und den geheimnisvollen Gesang des Mondvogels. Und jeden Morgen wurden wir von dem unvergleichlichen Klang tausender kleiner Glockenvögel geweckt. Im Garten stand ein Ziehbrunnen, und weißer Flieder blühte, dazu Sonnenblumen, Tulpen und Margeriten. Wir hatten auch einige Kirsch- und Apfelbäume. Aber das Schönste waren die Rosen, die wir züchteten. Ihr zarter Duft war so einzigartig, dass Leute von weither kamen, um daran zu riechen. Wir hatten auch einen eigenen Gemüsegarten, ein paar Schweine, Ziegen und Hühner. Es fehlte uns an nichts. Wir waren sehr glücklich dort im Mirin-Tal. Es war ein Leben wie im Paradies.»
«Und warum seid ihr dann nach Dark City gezogen, Großmutter und du?»
«Weil der König es befahl.»
«Drakar?»
«Nein. Bevor Drakar der Erste an die Macht kam, regierte ein anderer das Land.»
«Wer?», fragte Ephrion gespannt und richtete sich auf. Der Großvater beugte sich ganz dicht zu ihm, so als dürfte niemand hören, was er soeben im Begriff war zu sagen.
«König Olra», hauchte er.
10
Kaum hatte der Großvater den Namen ausgesprochen, stürzte Ephrions Mutter in die Stube und stemmte aufgebracht ihre Hände in die Seite.
«Vater, was erzählst du dem Jungen da?»
Der Großvater sah die junge Frau unschuldig an.
«Nichts. Sei unbesorgt.»
«Unbesorgt?» Ephrions Mutter holte tief Luft. Ihre Brust hob und senkte sich nervös. «Wie oft habe ich dich schon gewarnt, Vater? Das alles wird eines Tages noch böse enden. Warum bist du bloß so stur? Es ist verboten, darüber zu reden, und du weißt das doch.»
«Worüber ist es verboten zu reden?», wunderte sich Ephrion.
Seine Mutter war so außer sich, dass es Ephrion fast ein wenig mulmig wurde.
«Dein Großvater versteht ganz genau, worauf ich anspiele», sagte sie trocken. «Und wenn er etwas mehr Verstand hätte, würde er nicht seinen Enkel damit belasten.» Sie warf dem Großvater einen scharfen und gleichzeitig besorgten Blick zu. «Du spielst mit dem Feuer, Vater. Ich will nicht, dass du uns in Schwierigkeiten bringst. Es ist zu gefährlich, für dich – und für uns alle.»
«Was ist gefährlich?», fragte Ephrion, von Neugier gepackt. «Was ist gefährlich, Mutter?»
«Nichts», sagte sie, doch Ephrion wusste, dass sie log.
«Was ist gefährlich, Großvater? Was ist gefährlich?»
Der Großvater gab ihm keine Antwort. Für ein paar Sekunden schaute er Ephrions Mutter stumm an, und es schien dem kleinen Jungen, als wären die geheimnisvollen Blicke, die sie sich gegenseitig zuwarfen, beladen mit Sorge und auch einer Spur von Angst. Endlich wandte sich der Großvater ihm wieder zu und lächelte ihn an.
«Wie wär’s, wenn ich dir die Geschichte vom fliegenden Pferd und der sprechenden Ente erzähle?»
«Nein», schmollte Ephrion. «Die Geschichte hast du mir schon hundertmal erzählt.»
«Aber du magst sie doch so sehr.»
«Nein. Ich will wissen, warum ihr nach Dark City gekommen seid.»
«Das erzähle ich dir ein anderes Mal, einverstanden?»
«Warum?» Ephrion sah seinen Großvater provozierend an. «Warum erzählst du es mir nicht jetzt? Warum darf ich nicht wissen, was passiert ist?»
«Ephrion, du bist noch zu klein, um das zu verstehen.»
«Bin ich nicht», entgegnete Ephrion gekränkt. Er wurde beinahe ein wenig wütend auf seinen Großvater. «Wenn es so schön war, dort, wo ihr gelebt habt, warum sitzen wir dann hier in diesem Nebelloch?»
«Weil vermutlich nicht mehr viel übrig ist von unserem damaligen Zuhause. Wir nehmen an, dass der brennende Fels, der damals ins Meer stürzte, vieles, vielleicht sogar alles zerstört hat.»
«Und wenn nicht?», bohrte Ephrion weiter. «Vielleicht steht die Strohhütte noch genau so, wie ihr sie verlassen habt. Das wäre doch möglich, oder?»
«Ephrion, bitte.»
«Warum können wir nicht einfach zurückgehen?»
«Das geht nicht, Ephrion.»
«Warum nicht?»
«Weil es eben nicht geht.»
«Aber warum nicht?» Ephrions Stimme quietschte vor Erregung. Er hasste es, wenn die Erwachsenen Geheimnisse vor ihm hatten, besonders Großvater. Der alte Mann seufzte.
«Weil niemand Dark City verlassen kann. Deshalb. Verstehst du jetzt?»
«Nein, das verstehe ich nicht. Das verstehe ich überhaupt nicht!»
Der Großvater kratzte sich am Kinn. Er hob seinen Enkel hoch und platzierte ihn wieder auf seinen Knien. «Hör zu, Ephrion, seit
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