Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
Die Menge würde toben und pfeifen, wie sie es immer tat, wenn jemand zur Strafe ausgepeitscht wurde. Und ihr Onkel würde vermutlich sogar mitschreien, weil er denken würde, sie hätte es nicht anders verdient.
Mit weichen Knien und pochendem Herzen stand sie in ihrem eleganten Kleid da und wartete auf das Unabwendbare.
«Kommt!», hörte sie auf einmal eine männliche Stimme, ganz in ihrer Nähe. Das Flüstern kam aus vielleicht fünf Schritten Entfernung von derselben Mauer her. Offenbar war sie nicht die Einzige, die das Schließen der Tore verpasst hatte und sich nun vor der Sicherheitsgarde versteckte. Aber konnte sie diesem Fremden trauen? War es womöglich ein Dieb, der gerade in eine Wohnung einstieg? Wollte er sie in eine Falle locken? Aliyah blieb unschlüssig stehen.
«Kommt!», raunte der Unbekannte rechts von ihr, während die Soldaten sich ihr von links näherten. Ihre Stimmen kamen immer näher. Jeden Moment konnte sie entdeckt werden! Jeden Moment konnte sie das Licht der Veolicht-Stablampen in ihrem Gesicht spüren. Ich bin verloren, dachte Aliyah.
«Kommt!», flüsterte der Mann ein drittes Mal. Entweder sie vertraute diesem Fremden im wahrsten Sinne des Wortes blindlings, oder sie fiel den Soldaten in die Hände. Ihre Stimmen waren nun so nahe, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis sie sie sehen würden. Doch anstatt rasch zu handeln, lähmte dieser Gedanke Aliyah so sehr, dass sie unfähig war, sich von der Stelle zu rühren. Ihre Füße waren wie festgeklebt.
«Ich glaube, da vorne ist jemand!», hörte sie da einen Soldaten sagen, und Aliyah wich jegliche Farbe aus dem Gesicht.
Sie haben mich!, dachte sie, während ihr Pulsschlag in die Höhe schnellte und sie von einem seltsamen Schwindelgefühl erfasst wurde. Es ist aus.
Doch in diesem Moment geschah etwas Unerwartetes. In diesem Moment, wohl keine Sekunde bevor der gefährliche Lichtstrahl der Veolicht-Stablampen Aliyah erfasste, packte sie jemand von hinten, und ehe sie sich’s versah, landete sie auf der andern Seite der Mauer. Es ging alles so schnell, dass Aliyah nicht einmal Zeit hatte zu schreien oder sonst irgendetwas zu tun. Sie hatte keine Ahnung, was soeben mit ihr geschehen war und wer sie so plötzlich von hinten gepackt hatte. Alles, was sie jetzt spürte, war eine kräftige Hand, die auf ihrer Schulter lag und sie gegen die Wand und nach unten drückte; nicht bedrohlich, sondern beschützend, und Aliyah war sich im Klaren darüber, dass sie soeben jemand vor der Peitsche gerettet hatte.
Sie wusste nicht, wo sie sich befand. Der Boden unter ihren Füßen war uneben und mit zerbrochenen Ziegelsteinen, Tonscherben und Metallstücken übersät. Ein Hinterhof?, überlegte Aliyah. Es war ihr ein Rätsel, wie sie überhaupt hier hingekommen war. Hatte der Fremde sie durch ein Loch in der Wand gezogen? Aber warum hatte sie die Öffnung nicht hinter sich gespürt, als sie sich an der Mauer entlanggetastet hatte? Und warum hatte sie sich an keinem Stein gestoßen oder sich ihr Kleid zerrissen? Es war alles reichlich merkwürdig und ziemlich mysteriös. Aber Hauptsache, sie war in Sicherheit. Das hoffte sie jedenfalls. Ihr Herz pochte so laut, dass sie glaubte, es müsste auf der andern Seite der Mauer zu hören sein.
«Du hast es dir nur eingebildet», hörte sie die Stimme eines Soldaten, und sie klang verdächtig nahe. Zu nahe. «Die Straße ist leer.»
«Ich habe jemanden gesehen, ich schwör es», sagte der zweite. «Da war jemand. Ich habe die Umrisse einer Gestalt gesehen, gleich da vorne.»
Aliyahs Herz schlug noch stärker. Selbst die Anwesenheit ihres geheimnisvollen Retters, der dicht neben ihr saß, vermochte sie nicht zu beruhigen. Der Soldat hatte sie gesehen, und sie würden nicht eher ruhen, bis sie sie fanden. Sie saßen in der Falle. Die Schritte näherten sich. Aliyah rechnete jeden Moment damit, entdeckt zu werden. Mucksmäuschenstill lehnte sie an der Wand und wartete und hoffte.
«Da ist ein Loch in der Mauer!», rief einer der Männer plötzlich. Aliyah erstarrte bis auf die Knochen. Sie konnte die schweren Schritte der Kampfstiefel ganz nahe hören. Und was der Soldat sagte, war eindeutig.
«Wollen wir doch sehen, welcher Fuchs sich in diesem Bau verkrochen hat.»
Ihr Schicksal war besiegelt. Die Peitsche unausweichlich. Obwohl Aliyah den Lichtschein der Stablampe nicht sehen konnte, wusste sie, dass er in diesem Moment durch die Öffnung drang und jeden Winkel peinlichst genau nach
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