Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
Volksfest. Es war Pflicht eines jeden Bürgers von Dark City, ihr beizuwohnen, um zu sehen, was mit denen passierte, die gegen die Gebote verstießen. Ausnahmen ausgeschlossen. Nur wer todkrank oder gelähmt war, durfte zu Hause bleiben. Alle andern, ob Kinder oder Erwachsene, mussten an diesem Tag ins Stadion kommen.
Wer nach dem Erschallen der ersten Fanfaren noch draußen anzutreffen war und von der Sicherheitsgarde aufgegriffen wurde, der wurde ins Stadion geschleppt und öffentlich ausgepeitscht. Drakar wollte mit dieser Maßnahme verhindern, dass irgendwelche Schurken die Gunst der Stunde für Einbrüche oder Verwüstungsaktionen nutzten, während ihre Opfer nichts ahnend im Stadion saßen. Eine menschenleere Stadt war für solches Gesindel wie eine Freikarte für einen Vergnügungspark oder wie ein offener Geldbeutel, der auf einem Silbertablett serviert wird.
Die durchtrainierten Soldaten der Sicherheitsgarde durchkämmten daher während der gesamten Hexenverbrennung sämtliche Straßen und Winkel der Stadt mit ihren Veolicht-Stablampen, um jeden aufzuspüren, der sich nicht im Stadion befand. Sie waren dafür bekannt, gründlich und unbestechlich zu sein. Der Sicherheitsgarde wollte niemand freiwillig in die Hände fallen. Sie kannten keine Gnade, wenn Drakars Gebote übertreten wurden.
Einem Schatten gleich huschte der Mann von Haus zu Haus, immer wieder lauschend und nach dem gefährlichen Schein der Veolicht-Stablampen Ausschau haltend. Er durfte auf keinen Fall entdeckt werden. Die Mission durfte nicht scheitern. Zu viel stand auf dem Spiel. Zwischen den Gebäuden, vom Nebel verschluckt, ragten die gespenstischen Umrisse des Stadions in die Höhe. Darauf hielt der Mann zu. Zielstrebig. Entschlossen. Als er den zweiten Stoß der Fanfaren hörte und den geschlossenen Jubel der Bevölkerung, blieb er stehen. Das tödliche Schauspiel hatte offenbar begonnen.
«Orenum assaíno velura», murmelte er, und seine stahlblauen Augen funkelten wie zwei Saphire. «Lang lebe der König.»
20
Die Fanfaren erschallten weit über die Mauern des Stadions hinaus bis in die tiefsten Winkel von Dark City. Das spektakulärste aller Schauspiele war eröffnet. Was in anderen Kulturen mit dem Ausdruck «Brot und Spiele» bezeichnet wurde, lief unter Drakars Herrschaft unter «Zuckerbrot und Peitsche». Drakar scheute keine Mittel, um die Redewendung nicht nur symbolisch, sondern auch wörtlich in die Tat umzusetzen. Am Tag einer Hexenverbrennung gab es somit beides im Überfluss: Zuckerbrot und Licht für die ihm treu ergebene Bevölkerung, Peitschenhiebe und Tod für all diejenigen, die sich seiner Regierung widersetzten. Spätestens bei einer öffentlichen Verbrennung wurde jedem wieder neu ins Bewusstsein gerufen, wie die Spielregeln in Dark City lauteten.
Die Show begann mit dem traditionellen Fackeltanz. Siebzig Frauen in kurzen Lederröcken und mit langen Bändern verschnürten Oberteilen tanzten mit je zwei Fackeln um den hoch aufgerichteten Scheiterhaufen, der bereits am Vorabend in der Mitte der runden Arena aufgebaut worden war. Zum Rhythmus eindrucksvoller Trommelmusik führten die Frauen einen figurenreichen Schautanz vor, wirbelten die brennenden Fackeln durch die Luft, fingen sie geschickt wieder auf, jonglierten mit ihnen, schlugen Räder und malten Lichtstreifen und Feuerkreise in den Nebel. Die perfekt aufeinander abgestimmte Choreografie bot eine atemberaubende Eröffnungszeremonie. Die Menschen klatschten begeistert, während sie die fantasievollen Lichtgebilde vibrierend in sich aufsogen.
Aliyah glaubte, ihr Herz würde stillstehen, als die Trompeten erschallten. Die Tore!, schoss es ihr durch den Kopf. Vor lauter Sorge um ihren Wolf hatte sie es versäumt, rechtzeitig zum Stadion zurückzukehren. Jetzt war es zu spät. Sobald die großen Tore des Stadions geschlossen wurden, gab es keinen gefährlicheren Ort als die ausgestorbenen Straßen von Dark City. Aliyah wusste sehr wohl, was die Sicherheitsgarde mit denjenigen tat, die sie nach der Torschließung draußen aufgriffen. Jeder wusste es. Sie erschauderte bei dem Gedanken.
Drakar der Erste hatte viele Gesetze erlassen, um Dark City zu einem friedlichen und bürgerfreundlichen Ort zu machen. Die Gebote waren streng, doch sie erhöhten die Sicherheit, und wer sich daran hielt, hatte nichts zu fürchten. Drakar der Zweite hatte bei seinem Regierungsantritt drei neue Gebote eingeführt, die besonders scharf kontrolliert wurden. Er nannte sie «Die
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