Dark Heart: Zweiter Band
in den nächsten Stunden noch viel Schnee hinzukommen.
»Kommt der Winter hier immer so früh?«, fragte ich und zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch. Ich wusste nicht, wie weit die Temperaturen in den letzten Stunden gesunken waren, doch meine Glieder fühlten sich ganz steif an.
»Nein, das Wetter ist ungewöhnlich«, sagte Sam und schlug den Pelzkragen ihrer Uniformjacke hoch.
Hank verband die letzten Kabel miteinander und überprüfte die in Reihe geschalteten Batterien, die durch die Lichtmaschinen der Autos gespeist wurden.
»Wie lange leben Sie schon in Telegraph Creek?«, wollte ich wissen.
»Noch nicht lange. Ich bin vor zehn Jahren aus Vancouver hier hochgezogen.«
»Das muss eine ziemliche Umstellung für Sie gewesen sein.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie es für mich wäre, aus der Stadt mitten in die Wildnis zu ziehen.
»Es war nicht so schlimm, wie Sie vielleicht denken«, sagte sie und putzte sich mit einem Papiertaschentuch die von der Kälte gerötete Nase. »Auf den ersten Blick ist es hier oben vielleicht ein wenig ruhig, aber die Leute sind ein ganz besonderer Schlag. Ich habe mich sofort in sie verliebt.«
»Sie leben allein?«, fragte ich, biss mir aber sofort auf die Zunge, denn eigentlich ging mich das gar nichts an.
Erst jetzt sah mir Sam in die Augen. Sie war bestimmt niemand, der wahnsinnig viel Wert auf Höflichkeit legte. Deshalb überraschte mich ihre Antwort nicht im Geringsten: »Das geht Sie überhaupt nichts an.«
Ich merkte, wie ich rot wurde. »Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.«
Sie schnaubte nur und ließ mich einfach stehen.
»Machen Sie sich nichts daraus«, sagte Brett, der die Fensterläden der Kirche kontrolliert hatte. »Bei jedem von uns liegen jetzt die Nerven blank. Alle haben panische Angst vor der Nacht. Viele haben einen Menschen verloren, den sie lieben. Sie glauben gar nicht, wie verzweifelt die Leute hier sind. Ohne Samantha wäre alles schon längst zusammengebrochen. Wenn sie drei Stunden pro Nacht geschlafen hat, ist das schon viel. Außerdem haben Sie gerade mit Ihren salzigen Fingern in einer tiefen Wunde gebohrt.«
»Das habe ich nicht gewollt.«
»Natürlich nicht. An manchen Tagen ist es einfacher, mit drei Handgranaten zu jonglieren, als mit Sam ein vernünftiges Gespräch zu führen. Seit Frank und Melissa vor acht Jahren diesen schrecklichen Autounfall hatten, ist sie nicht mehr die Alte.«
»Ihr Mann und ihre Tochter?«, fragte ich erschrocken.
Brett nickte. »Melissa wäre jetzt genauso alt wie Sie. Also nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, wenn Sam ein wenig ruppig ist. Sie ist ein guter Mensch.«
Es war ein…
E s war ein kärglicher Haufen, der an diesem Morgen bei Glockengeläut hinauf zur kleinen Kirche zog: etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder. Sie beäugten uns äußerst misstrauisch und nahmen stumm auf den harten Holzbänken Platz, ganz so, als besuchten sie einen Gottesdienst. Dann, als Brett gerade die Türen schließen wollte, schlurfte die alte Frau herein, die ich bei unserer Ankunft auf der Straße gesehen hatte. Erst als sie in der letzten Reihe Platz genommen hatte, stimmten alle den Choral Praise to the Lord, the Almighty, the King of creation a n – ein Lied, das sogar ich kannte.
Wir hatten zusammen mit Sam auf Stühlen neben dem Altar Platz genommen und warteten, bis die letzte Strophe verklungen war.
Dann stand Sam auf und räusperte sich. »Danke, dass ihr alle gekommen seid«, sagte sie mit erstaunlich fester Stimme, obwohl ich wusste, dass sie wahrscheinlich erschöpfter war als alle anderen, die hier zusammengekommen waren. Nach einer Pause fuhr sie fort: »Wie ihr wahrscheinlich alle wisst, ist gestern Nacht Margo zurückgekehrt. Das wäre eine gute Nachricht, wenn die Umstände ihres Verschwindens und ihrer Rückkehr nicht so verstörend wären.« Sam schluckte und fasste sich nervös an die Nasenspitze. »Aber vielleicht ist es besser, wenn sie euch selbst davon erzählt.« Sie nickte Brett zu, der daraufhin die Tür zur Sakristei öffnete.
Ein Raunen ging durch die Gemeinde, als Will seine Frau in die Kirche führte. Obwohl Margo schon eine wesentlich gesündere Gesichtsfarbe hatte als letzte Nacht und auch die dunklen Schatten unter ihren Augen zurückgegangen waren, schien sie noch immer in einem jämmerlichen Zustand zu sein. Ihre Schritte wirkten unsicher und schlurfend, ihre Bewegungen linkisch. Margos Haltung war gebückt, sie zog die Schultern hoch wie eine
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