Dark Heart: Zweiter Band
Verfall dauerhaft aufzuhalten und sich endgültig unsterblich zu machen. Und um das zu schaffen, hatte er offenbar nicht mehr viel Zeit, sonst wäre seine Gestalt nicht so gespensterhaft gewesen. Folglich würde er alles daransetzen, meinen Vater in seine Gewalt zu bekommen. Denn nur James Milton kannte die letzten Geheimnisse. Er wusste, was zu tun war, um Solomons Verwandlung zu vervollkommnen. Er wusste, wie man ein perfektes Wesen erschuf, halb Mensch, halb Vampir, das mit den Vorzügen beider ausgestattet war. Wenn Solomon diese Machtfülle erlangte, war die Menschheit nicht mehr zu retten. Wir mussten uns beeilen, wenn wir vor Solomon Aklavik erreichen wollten. Vor allen Dingen, weil wir nicht wussten, wie schnell er war und welche Fähigkeiten er hatte, um solch große Entfernungen zu überwinden.
Kurz vor Sonnenaufgang erreichten wir Telegraph Creek. Den Scheinwerfern war der Strom noch nicht ausgegangen, Dampf stieg von den heißen Lampen in die winterliche Kälte auf. Mark ging voraus, um sie auszuschalten.
Ich fragte mich, wie die Familien auf die Rückkehr ihrer Angehörigen reagieren würden. Viel hing von diesem Empfang ab. Waren die Nachtgeschöpfe trotz allem, was geschehen war, noch immer Teil dieser engen dörflichen Gemeinschaft? Oder würde man sie wie Aussätzige behandeln und verstoßen? Und wie würden die Nachtgeschöpfe reagieren? Hatten sie sich tatsächlich unter Kontrolle, jetzt, da Solomons Fluch von ihnen genommen war? Wie viele von ihnen sehnten sich nach ihrem früheren Leben zurück, ihren Partnern, ihren Kindern? Und wie viele wollten Nachtgeschöpfe bleiben?
Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich sah, dass sich die Bewohner von Telegraph Creek schon alle auf der Hauptstraße versammelt hatten, um uns zu empfangen. Eine beinahe unerträgliche Anspannung lag in der Luft, einige Männer waren bewaffnet und umklammerten nervös ihre Gewehre. Vergebens suchte ich nach einigen beruhigenden Worten, kam aber gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn plötzlich ließ ein kleines Mädchen einen lauten Freudenschrei los und rannte auf eine Frau zu, vermutlich ihre Mutter. Die Frau ging in die Knie und breitete schluchzend ihre Arme aus. Dann löste sich ein Mann aus der Gruppe, gab Sam sein Gewehr und folgte dem Kind, um seine Frau erst vorsichtig zu berühren und dann zärtlich zu küssen. Ich hatte einen Kloß im Hals, und auch Mark ging es wohl nicht besser, denn er schaute verschämt zur Seite. Jacks Blick hingegen ruhte auf mir.
Auch die anderen Nachtgeschöpfe suchten und fanden ihre Angehörigen. Wir sahen stille Umarmungen, keinen lauten Jubel. Zu schlimm war, was die Verwandelten unter der Herrschaft Solomons erlitten hatten. Margo stand neben ihrem Mann und weinte. Nur eine Person vermisste ich in der kleinen Versammlung.
»Wo ist Martha?«, fragte ich Sam, die ein wenig abseits eine Zigarette rauchte.
»Sie ist heute Nacht gestorben.«
»Oh nein«, flüsterte ich.
»Es ist traurig, aber vielleicht war einfach ihre Zeit gekommen«, sagte Sam. »Keiner hier wusste, wie alt sie wirklich war. Auch wenn es hart klingen mag: Bei all ihren Gebrechen muss der Tod eine Erleichterung für sie gewesen sein.«
»Kann ich sie sehen?«
»Natürlich«, sagte Sam.
Gemeinsam gingen wir zu einem kleinen, rot gestrichenen Holzhaus am Ende der Straße, auf dessen Veranda mehrere Windspiele erklangen. Bündel getrockneter Kräuter zierten die Hauswand. Ein bunter Totempfahl, in den das Gesicht eines Wolfes geschnitzt war, überragte den Dachfirst und schien Wache zu halten gegen alles Böse. Die Haustür war unabgeschlossen.
Wir betraten eine kleine, blitzsaubere Küche, zweckmäßig eingerichtet, wo auf dem Tisch noch eine halb volle Tasse Tee stand. Sam nahm eine brennende Petroleumlampe vom Fensterbrett, die jemand als Totenlicht aufgestellt hatte, und ging mir voraus ins Wohnzimmer.
Dort auf einem Sofa lag Martha Twofeathers. Ihre Brille lag in einem offenen Etui auf dem Tisch. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, die Augen waren geschlossen. Sie lächelte, als habe sie den Tod begrüßt.
Auf dem Regal über dem alten Röhrenfernseher stand eine Reihe gerahmter Fotos. Eines zeigte Martha als junge Frau mit schmaler Nase, vollen Lippen und mandelförmigen, tiefbraunen Augen, die den Betrachter herausfordernd anblickten. Neben ihr war eine verschwommene Gestalt zu sehen, als habe sich jemand beim Fotografieren bewegt. Das musste mein Vater sein zu einer Zeit, da er noch all seine
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