Dark Heart: Zweiter Band
Masaus Fluch«, sagte Nachtrabe bitter. »Weißt du, wo wir hier sind?«
»In Aklavik«, sagte ich vorsichtig.
»Hier hat alles seinen Anfang genommen«, sagte Nachtrabe. »Hier hat Masau vor Jahrhunderten seinen Fluch ausgesprochen.«
Ich wiederholte meine Frage. »Wo ist James Milton? Wo ist mein Vater?«
»Wo ist Charles Solomon?«, erwiderte sie die Frage. »Ich weiß, dass er heute hier gelandet ist.«
Mir fielen die Newsfeeds wieder ein, die ich auf dem Rechner gesehen hatte. Nachtrabe war sehr gut informiert. Auch wenn sie in der Nähe des Polarkreises lebte und sich nie zeigte, hieß das nicht, dass sie nicht wusste, was in der Welt der Nachtgeschöpfe geschah.
Und dann gab es ja auch noch James Milton. Meinen Vater. Sehr wahrscheinlich war er sogar mehr als nur ihre Stimme. Immerhin diente er ihr seit über einhundertfünfzig Jahren. In dieser Zeit hatte er Gelegenheit gehabt, ein umfangreiches Netzwerk aus Informanten, vielleicht auch Spitzeln aufzubauen. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich plötzlich erstarrte.
»Fährt mein Vater einen Toyota Landcruiser?«, fragte ich. Eine dunkle Ahnung beschlich mich.
Nachtrabe nickte. »Wenn er sich unter Menschen begibt, nimmt er den Wagen.« Sie sah mich besorgt an. »Was ist geschehen?«
»Wir haben den Landcruiser auf halbem Weg hierher gefunden«, sagte Jack. »Er sah aus, als wäre er in einen Unfall verwickelt worden. Vom Fahrer gab es keine Spur.« Ich musste an Mark denken, der jetzt in Aklavik sein musste und Hilfe organisierte.
Zum ersten Mal schwand die unpassende Selbstgewissheit aus dem Gesicht dieses Kindes, das Tausende von Jahren alt war.
»Wo ist mein Vater?«, wiederholte ich zum dritten Mal meine Frage.
Nachtrabe deutete auf den Weg, den wir gekommen waren. »Ungefähr drei Meilen von hier befindet sich ein Wald. Vielleicht wirst du ihn dort finden.«
»Was soll das heißen?«, sagte Jack.
»Jeder normale, sterbliche Mensch verläuft sich in diesem Wald und findet den Tod. Keiner der Bewohner Aklaviks geht dort auf die Jagd. Sie sagen, der Landstrich sei verflucht, böse Geister suchten ihn heim.«
»Stimmt das?«
»Ja, es stimmt. Auch wir Nachtgeschöpfe können ihn nicht durchqueren. Wir versuchen es schon lange, aber egal in welche Richtung man geht, nach wenigen Stunden kommt man wieder am Ausgangspunkt heraus. James hat es ausprobiert, immer und immer wieder. Ohne Erfolg. Und auch mir gelingt es nicht.«
»Was befindet sich in diesem Wald?«, fragte Jack.
»Die Höhle, in der Masau meine Mutter verfluchte«, sagte das kleine Mädchen.
»Dann werde ich mich auf den Weg machen«, sagte ich kurz entschlossen und zog meine Kapuze wieder hoch.
»Du gehst nicht allein!«, rief Jack.
»Wenn ihr geht, werdet ihr beide sterben«, sagte Nachtrabe.
»Falsch«, sagte ich. »Nur Jack würde das nicht überleben. Ich bin keine Normalsterbliche, schon vergessen? Ich bin das Kind eines Vampirs und eines Menschen. Und ich bin zu allem bereit, wenn es darum geht, meinen Vater zu retten.«
»Dann nimm wenigstens das hier mit.« Jack reichte mir sein Messer. Das Messer, durch das Keren Demahigan den endgültigen Tod gefunden hatte.
»Danke.« Ich steckte es ein und setzte mich auf das Schneemobil. Gerade als ich den Anlasser betätigen wollte, spürte ich Jacks Hand auf meinem Arm.
»Pass auf dich auf«, sagte er und ich wusste, dass er eigentlich noch mehr sagen wollte. Dass er mich liebte, dass er Angst um mich hatte. Aber er schwieg. Und ich fuhr los.
Auf meinem Weg kam ich an der Unfallstelle vorbei. Der Landcruiser stand noch immer am Straßenrand, war jetzt aber dick eingeschneit. Von Polizei und Rettungswagen war weder etwas zu sehen noch zu hören. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie hier waren.
Als ich den Waldrand erreichte, stellte ich das Schneemobil ab und holte die kleine LED-Lampe aus der Jackentasche. Ihr Lichtstrahl war hell, ein eisiges, grelles Blau. Angeblich hatte sie eine Reichweite von 50 0 Metern, natürlich bei besserem Wetter. Als ich die ersten Bäume erreichte, drehte ich mich noch einmal um, aber es war nichts mehr zu sehen. Der Schnee hatte mein Fahrzeug bereits verschluckt. Ich war alleine. Nur die Angst blieb mir als Begleiter.
Der Wind rauschte in den Fichtenkronen und peitschte mir eisige Kälte ins Gesicht. Immer wieder versank ich bis zu den Knien in lockerem Schnee, der sich in niedrigen Senken angesammelt hatte. Ich ging davon aus, dass in weniger als einer Viertelstunde meine
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