Dark Inside (German Edition)
getötet hatten. Warum hatte er nicht versucht, die beiden zu retten?
Hinzu kam, dass der September ungewöhnlich heiß gewesen war. Inzwischen hatten sie zwar Oktober, aber es war immer noch warm. Na ja, inzwischen wohl eher gewesen . Aber er hätte daran denken müssen, wie unberechenbar das Wetter in den Bergen sein konnte.
»Komm, wir gehen«, sagte er. Er sprang vom Tisch, nahm seinen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. »Wenn wir das Tempo beibehalten, finden wir bestimmt eine Blockhütte oder etwas anderes, wo wir übernachten können. In dieser Gegend gibt es eine Menge Hotels und Ferienhäuser. Wir müssen sie nur finden.«
»Okay.«
»Ein bisschen Schnee hat vielleicht auch etwas Gutes. Wenn wir Glück haben, ziehen die Hetzer alle nach Süden. Ohne Strom wird der Winter ganz schön kalt werden.«
»In Seattle ist es bestimmt wärmer«, sagte Clementine. »Heath hat gesagt, dass es dort nur regnet.«
Als sie wieder auf der Straße waren, fielen die ersten Schneeflocken. Es waren nur ein paar Flocken, die sich zögerlich aus den dunklen Wolken über ihnen lösten.
»Siehst du«, rief er. »Ich hab’s doch gewusst.«
»Es ist wunderschön«, befand sie, während sie den Kopf nach oben reckte. »Ich liebe es, wenn es zum ersten Mal im Winter schneit. Ich bin dann immer auf die Felder gelaufen und habe in die Wolken gestarrt. Das sieht fast so aus, als würde der ganze Himmel nur für mich tanzen.«
Michael hasste Schnee, aber das sagte er ihr nicht. Schnee war gleichbedeutend mit Schneeschippen, eiskaltem Gesicht und Videospiele-Spielen, bis er sich zu Tode langweilte. Im Winter hätte er sich am liebsten ins Bett verzogen, um durchzuschlafen. Seine Mutter hatte immer gewitzelt, unter seinen Vorfahren müsse ein Bär gewesen sein. Er hatte fest vorgehabt, in Kalifornien oder Arizona auf die Universität zu gehen, irgendwo, wo es das ganze Jahr über warm war.
Am Anfang schmolz der Schnee noch, wenn die Flocken auf den Boden trafen, doch nach etwa dreißig Minuten bildete sich langsam eine dünne weiße Schicht auf der Straße. Aus dem Himmel über ihnen fielen große Flocken, die mit jedem ihrer Schritte schneller herabsanken. Michael machte sich langsam Sorgen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Er wollte ihr keine Angst machen, doch es sah ganz danach aus, als würde sich ein heftiger Schneesturm entwickeln. Von hinten wehte ein kräftiger Wind, der sich gegen ihre Kleidung warf und versuchte, ihnen die Haare vom Kopf zu reißen. Die Sonne war verschwunden. Es war noch nicht einmal fünfzehn Uhr, doch die Wälder waren dunkel. Der Schnee schluckte sämtliches Licht.
Sie brauchten ein Dach über dem Kopf.
»Wie ist denn so was überhaupt möglich?«, schrie sie gegen den heulenden Wind. Er hörte, wie ihre Zähne klapperten, wenn sie beim Sprechen eine Pause machte. »Heute Morgen war es noch sonnig und warm.«
»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, brüllte er zurück.
»Wirklich? Du hast es tatsächlich sehen können? Ich sehe nicht einmal die Straße vor uns.«
Sie hatte recht. Die Sicht war gleich null.
»Pass auf, ob du eine Abzweigung erkennen kannst«, rief er. »Es muss irgendwas in der Nähe sein. Ich bin hier aufgewachsen. Hier in der Gegend sind Hunderte von Blockhütten.«
Okay, das war ein wenig gelogen. Er hatte weiter südlich gewohnt, wo viele Skihügel das Gelände beherrschten. Im Augenblick hatte er nicht die geringste Ahnung, wo sie waren. Es war durchaus möglich, dass sie zu weit nach Norden gegangen waren und schon die Grenze nach Kanada überquert hatten. In letzter Zeit hatte er sich häufig im Kreis bewegt und nicht darauf geachtet, wo die Straße hinführte. Als er mit der Gruppe unterwegs gewesen war, war es vor allem darum gegangen, etwas zu essen zu finden. Allein gelang es ihm irgendwie nie, egal wie viel Weg er auch zurücklegte, weit genug wegzukommen.
Davon sagte er ihr allerdings nichts. Er wollte ihr nicht noch mehr Angst machen.
Den anderen hatte er auch keine Angst machen wollen. Und was hatte es ihnen gebracht?
Der Schneesturm tobte weiter und nach kurzer Zeit steckten sie bis zu den Knöcheln in dem weißen Pulver. Die Sonne war jetzt vollständig untergegangen und die Nacht brach herein. Der Wind heulte in ihrem Rücken. Michael tat das Gesicht weh und seine Zehen wurden allmählich taub. Clementine beklagte sich nicht, doch es war ihr anzumerken, dass es ihr genauso erging wie ihm. Mit beiden Händen hielt sie ihre Jacke
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