Dark Inside (German Edition)
ihn auf und fing an, Verbandsmaterial zu verteilen. Der Fremde aus dem Bus kam mit einem Stück weißer Mullbinde in der Hand zu ihr. »Du blutest.« Er legte Aries den Verband auf die Stirn und drückte ihn sanft gegen ihre Haut. »Halt das mal. Alles in Ordnung mit dir?«
Aries hob den Arm. Ihre Finger berührten sich, als sie ihre Hand auf den Verband legte. Sie drückte ihn fest auf ihre Stirn, doch es tat gar nicht weh. Als sie den Mull wegnahm, sah sie dunkelrotes Blut darauf. »Ich glaube, das ist nicht von mir«, sagte sie. »Ich bin nicht verletzt.«
»Gut. Hast du deine Freundin gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann sollten wir es noch mal im Bus versuchen. Wir suchen weiter nach ihr.« Als der Junge sich umdrehte und zu dem zerstörten Bus ging, folgte sie ihm. Sie mochte seine ruhige Art und es gefiel ihr, wie er seinen Körper beim Gehen bewegte. Es vermittelte ihr Sicherheit. Und Stärke. Sie sah Colin auf der Straße stehen und wollte ihm etwas zurufen, doch dann überlegte sie es sich anders. Er hatte sie schon einmal ignoriert; sie bezweifelte, dass er ihr eine Hilfe sein würde.
»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragt sie, als sie wieder in den Bus kletterten.
»Erdbeben«, antwortete der Junge. Seine Augen flackerten im Licht der untergehenden Sonne. »Als hätte sich die Erde geöffnet und uns verschlungen.«
Mach dich bereit. Es wird sich gleich öffnen.
Der Verrückte hatte das gesagt, kurz bevor er mit seinem Countdown begonnen hatte.
Doch wie konnte das sein? Niemand konnte Erdbeben vorhersehen – oder vielleicht doch?
»Sara muss irgendwo hier drin sein«, sagte Aries. Ihre Stimme hörte sich so schwer und fremd an. »Sie ist blond und trägt eine Brille. Wir müssen sie finden.«
»Wir werden sie finden.«
»Ich weiß nicht mehr, was sie anhat.«
»Ich habe sie gesehen. Ich weiß, wie sie aussieht.«
»Ist es nicht merkwürdig, dass ich mich nicht erinnern kann? Ich müsste es doch eigentlich wissen. Sie ist meine beste Freundin. Oh Gott. Und wenn sie jetzt tot ist? Dann muss ich es ihrer Mutter sagen.«
Der Junge drehte sich um und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie sah ihm in die Augen und fragte sich, wie sie so dunkel und stechend und gleichzeitig so warm und freundlich sein konnten. Sie überlegte, ob sie ihn nicht doch schon einmal gesehen hatte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Waren sie vielleicht auf dieselbe Schule gegangen?
»Wir werden sie finden«, wiederholte er.
Und sie fanden sie auch. Doch da war es schon zu spät.
CLEMENTINE
Der Wind warf sich gegen die kleine Gemeindehalle, ließ die Fenster erzittern und zwängte sich durch die Ritzen. Dicht über dem Fußboden war ein starker Luftzug spürbar, der Nasen und Ohren der Anwesenden taub vor Kälte werden ließ. Das Gebäude war vor über hundert Jahren gebaut worden, als Glenmore die Stadtrechte bekommen hatte. So erstaunliche Erfindungen wie Dämmstoffe hatte es damals noch nicht gegeben. Kein Wunder, dass die Leute auf den Schwarz-Weiß-Bildern an den Wänden allesamt traurig und deprimiert aussahen.
Clementine saß eingezwängt zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater, in der zweiten Reihe von hinten, direkt neben dem Eingang. Die Bürgerversammlung war für sieben Uhr angesetzt worden, doch sie waren zu spät gekommen; ihre Mutter hatte verzweifelt versucht, Heath ans Telefon zu bekommen, doch alle Leitungen waren zusammengebrochen. Heath war in Seattle, wo er Informatik studierte.
In Seattle hatte es viele Tote gegeben. Das Erdbeben hatte den größten Teil der Westküste zerstört, von Kalifornien bis hinauf nach Alaska.
Clementine hatte nicht eine Sekunde lang geglaubt, dass Heath tot war. Ihre Mutter hatte diese eingebauten Warnsensoren, die immer dann Alarm schlugen, wenn ihre Kinder Probleme hatten. Sie hatte es sofort gewusst, als Clementine einmal beim Cheerleader-Training von der Pyramide gefallen war und sich den Knöchel verstaucht hatte. Als Heath einen Autounfall hatte, hatte sie ihn nicht einmal eine Minute später angerufen und gefragt, ob es ihm gut gehe. Ihr Instinkt meldete sich, wenn ihre Familie in Schwierigkeiten war. Wenn Heath tot wäre, wüsste sie das.
Sobald die Telefonleitungen in Washington wieder funktionierten, würden sie einen Telefonanruf oder eine E-Mail von Heath bekommen und er würde Witze darüber machen, dass er die Stadt zum Einstürzen gebracht hatte, und ihnen sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten.
Es war natürlich
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