Dark Inside (German Edition)
möglich, dass alles ganz anders war. Wer wusste schon, wie diese Mutter-Kind-Instinkte funktionierten. Vielleicht galt dafür ja so etwas wie eine Zeitzonenbeschränkung.
»Wenn wir ihn bis morgen Vormittag nicht erreicht haben, fahre ich nach Seattle«, hatte ihre Mutter gesagt, bevor sie zur Bürgerversammlung aufgebrochen waren.
»Jetzt übertreib nicht, Liebling«, hatte ihr Vater geantwortet. »Ich bin sicher, dass es Heath gut geht. Sie werden die Leitungen reparieren und er wird anrufen.«
Ihr Vater hatte nicht sehr überzeugt geklungen. Während des Gesprächs mit ihrer Mutter hatte er an die Decke gestarrt und nicht nach ihrer Hand gegriffen, wie er es sonst immer tat, wenn er beruhigend wirken wollte. Und daher war Clementine klar, dass sich ihre Mutter morgen in den SUV setzen und nach Seattle fahren würde, was zwei Tage dauern würde. Clementine beschloss mitzukommen. Dann verpasste sie zwar das große Spiel am Freitag, aber das war bei Weitem nicht so wichtig, wie sich zu vergewissern, dass ihr Bruder am Leben war. Ein Teil von ihr freute sich sogar auf die Reise. Sie war noch nie an der Westküste gewesen. Ein anderer Teil von ihr hatte schreckliche Angst und wurde von Schuldgefühlen geplagt.
Lieber Heath, ich hoffe doch sehr, dass es dir gut geht. Schließlich hast du versprochen, mir Seattle zu zeigen, wenn ich mal an die Westküste komme. Das mit den Sehenswürdigkeiten fällt jetzt wohl flach. Aber wenn ich ehrlich bin, ist es mir wichtiger, dich gesund und munter zu sehen, als das Rock- und Pop-Museum zu besuchen.
Die Gemeindehalle war bis auf den letzten Platz besetzt. Es waren fast alle da. Glenmore war nicht groß, es hatte nur knapp tausend Einwohner, doch das kleine Gebäude konnte sie kaum fassen. Craig Strathmore, der Linebacker, saß fünf Reihen vor Clementine. Er hatte ihr zugewinkt, als sie mit ihren Eltern hereingekommen war, und die Geste hatte Schmetterlinge in ihrem Bauch ausgelöst. Im Vergleich zu den anderen Jungs aus der Gegend sah er zum Anbeten aus. Ganz vorn sah sie Jan und Imogene, zwei andere Cheerleader, mit denen sie oft zusammen war. Sie saßen ebenfalls bei ihren Eltern und man sah ihnen an, dass sie nicht freiwillig mitgekommen waren. Jan spielte mit einer Haarsträhne und ließ mit gelangweiltem Gesichtsausdruck ihren Blick über die Menge schweifen. Sie drehte sich um, und als sie Clementine entdeckte, rollte sie mit den Augen und zog übertrieben heftig die Schultern hoch. Clementine grinste sie an.
Sie wollte gerade ihren Vater fragen, ob sie sich zu ihren Freundinnen setzen konnte, als der Bürgermeister das Podium betrat.
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Sofort wurde es still in der Halle. Aller Augen richteten sich nach vorn und die Anwesenden warteten gespannt darauf, dass er zu reden begann. Es war die erste Notstandsversammlung seit über dreißig Jahren. Zwar wussten alle, worüber der Bürgermeister sprechen würde, doch sie fragten sich, was die Stadt Glenmore in einer solchen Situation tun wollte. Clementine tippte auf zahllose Wohltätigkeitsveranstaltungen mit Kuchenverkauf und Tombola auf dem Parkplatz der Kirche.
»Wie Sie bereits wissen, hat der Präsident alle Amerikaner gebeten, in der Stunde der Not zusammenzustehen«, begann der Bürgermeister. Offensichtlich war die Tonanlage noch nicht richtig eingestellt, denn es gab eine Rückkopplung mit einem unangenehmen Pfeifton. Sofort rannte jemand zum Podium und spielte an den Knöpfen herum und der Bürgermeister klopfte ein paarmal auf das Mikrofon, bevor er weitersprach. Einige der älteren Leute in den vorderen Reihen nahmen ihre Hörgeräte aus den Ohren. »Wir sind gebeten worden, Hilfslieferungen an die Westküste zu schicken, außerdem werden Freiwillige gesucht, die bei den Aufräumarbeiten helfen. Dort drüben werden eine Menge Leute vermisst und einige von ihnen sind auch aus unserer Stadt.«
Obwohl niemand so unhöflich war, sich umzudrehen und sie anzustarren, spürte Clementine, wie sich Hunderte unsichtbarer Augen auf ihre Familie richteten. Außer ihnen hatte sonst niemand Verwandte an der Westküste.
Sie sah, wie Craig ihr einen mitfühlenden Blick zuwarf, bevor ihm sein Vater etwas ins Ohr flüsterte, sodass er sich wieder umdrehte und auf das Podium starrte. Das Ganze kam ihr so komisch vor, dass sie Mühe hatte, ein Kichern zu unterdrücken.
Lieber Heath, wenn du stirbst, möchte ich dein Auto haben.
Nein, sie sollte jetzt besser nicht lachen.
Eine
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