Dark Inside (German Edition)
lautstarke Diskussion brach aus. Was hatte es mit den Gewaltausbrüchen auf sich – mit den Gerüchten darüber, dass die Leute sich gegenseitig umbrachten, ohne jeden Grund? Wie lange würde es dauern, bis es auch in Glenmore zu solchen Gräueltaten kam? Wie sollten sie sich schützen, wenn die Hälfte der Männer zum Helfen an die Westküste ging?
»Wir brauchen alle gesunden Männer hier bei uns«, brüllte jemand in der Menge. »Was sollen sie an der Westküste, wo Gott weiß was passieren kann? Damit schicken wir sie doch in den sicheren Tod.«
»Es wäre nicht sehr christlich von uns, Hilfe zu verweigern«, rief ein anderer. »Der Befehl kommt vom Präsidenten persönlich.«
»Hank, wie kannst du behaupten, ich sei kein Christ? Wo warst du denn letzten Sonntag? Zu Hause vor dem Fernseher, um dir das Spiel anzusehen?«
»Ruhe! Ruhe!«
Clementine bekam mit, dass jemand die Tür öffnete, denn genau in diesem Moment traf ein Windstoß ihren Nacken und ein eiskalter Schauder lief ihr über den Rücken. Sie hätte ihre warme Jacke anziehen sollen, aber es war schließlich September. Im September konnte man doch damit rechnen, dass es noch schön warm war, oder nicht?
Sie drehte den Kopf, um nach den Neuankömmlingen zu sehen. Henry und James Tills hatten die Gemeindehalle betreten. Beide lächelten, wirkten aber irgendwie bedrückt.
Mit Henrys Augen stimmte etwas nicht. Wenn Clementine ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte sie auf Kontaktlinsen getippt, doch Henry war nicht der Typ dafür.
»Guten Abend, Jungs«, sagte der Bürgermeister. Das Mikrofon gab schon wieder einen durchdringenden Pfeifton von sich, sodass sich mehrere Leute die Ohren zuhielten. »Findet ihr nicht, dass es dafür noch etwas zu früh ist? Ihr braucht euch noch nicht zu bewaffnen.«
Ein leises Murmeln ging durch die Reihen und viele der Anwesenden drehten sich um und sahen zur Tür. Die Waffen bemerkte Clementine erst, als Henry und James an ihr vorbeigingen. Plötzlich griff ihre Mutter nach ihrer Hand.
»Clem«, flüsterte sie. »Du musst von hier weg. Steh auf.«
»Was?«
»Geh. Jetzt.« Ihre Mutter packte sie und zerrte sie mit einem heftigen Ruck von ihrem Stuhl auf den Boden. Clementines Knie schrammten über den Beton. Sie verlor einen ihrer Schuhe, hatte aber keine Zeit, danach zu suchen, denn ihre Mutter stieß sie in den Gang.
Clementine wollte den Mund aufmachen und protestieren, doch dann sah sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie rappelte sich auf und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.
In der Gemeindehalle war es mit einem Mal totenstill.
Sie ging ein paar Schritte rückwärts, in Richtung des Eingangs. Henry und James Tills waren schon an ihr vorbei und hatten die Mitte der Halle erreicht. Keiner der beiden sah zu ihr hin, als sie unschlüssig und mit hängenden Armen dastand. Clementine warf einen Blick zu ihrer Mutter, doch diese sah starr geradeaus, als würde sie mit jeder plötzlichen Bewegung die Aufmerksamkeit der Falschen auf sich ziehen.
Clementines Blick ging wieder zu den beiden Männern, die außer ihr die Einzigen im Raum waren, die standen.
James hielt seine Waffe in der Hand, doch seine Haltung war irgendwie merkwürdig. Sein Rücken zuckte, als hätte er einen Anfall. Die Muskeln unter seinem eng anliegenden Hemd bewegten sich. Auf seiner Hose war Blut. Sein Bein machte ein ekelhaftes, schmatzendes Geräusch, wenn er es belastete. Clementine starrte gebannt auf die Bewegungen seines Knöchels. Sie konnte sich einfach nicht von dem Anblick losreißen, wie sein Fuß beim Gehen über den Boden schleifte.
Ihre Mutter packte sie am Arm und riss sie aus ihrer Starre. Als Clementine ihr in die Augen blickte, sah sie etwas, das sie in den sechzehn Jahren ihres Lebens noch nie gesehen hatte. Ihre starke, selbstbewusste, eigensinnige Mutter hatte panische Angst. Das konnte nicht sein. Ihre Mutter war diejenige, die immer allen Mut machte. Sie verlor nie die Beherrschung. Dazu war sie viel zu robust. Zu stark. Clementine wollte etwas sagen, doch ihre Mutter legte einen Finger auf die Lippen. Ihre Hände zitterten.
»Geh«, formte ihre Mutter lautlos mit den Lippen. Ihr Vater machte eine Handbewegung, als würde er sie wegscheuchen wie eine lästige Fliege. Seine Augen sahen sie nicht an, sie waren auf die Rücken von Henry und James gerichtet. Auch er wirkte beunruhigt.
Clementine schüttelte den Kopf. »Kommt mit«, murmelte sie stumm.
Wieder packte ihre Mutter Clementines
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