Dark Inside (German Edition)
legte sie vor sich auf den Tisch. »Ich würde ja gehen, aber ich glaube, dazu habe ich keine Kraft mehr.«
Sie kam näher. Die Stimmen in ihrem Kopf sagten nichts von Wegrennen. In den Worten des Jungen lag so viel Traurigkeit. Wenn er sie angelogen hatte, war er der beste Schauspieler, den sie je gesehen hatte.
»Du willst nicht abhauen?« Er klang überrascht.
Sie zuckte mit den Achseln. »Sollte ich?«
Der Junge schmunzelte. »Ich habe doch gesagt, dass ich in Ordnung bin, oder nicht? Vielleicht sollte ich mich vor dir in Acht nehmen. Du siehst zwar ziemlich normal aus, aber was ist heutzutage schon normal? Ich habe keine Ahnung.«
Seine Finger waren lang und schlank. Sie hatte schon immer ein Faible für Hände gehabt, für die Art, wie sie sich bewegten. Seine sahen wie die eines Musikers aus; sie klopften einen stummen Rhythmus auf die Tischplatte.
»Wohnst du hier?«, fragte sie. »Ich meine, hier in der Stadt. Nicht in diesem Restaurant.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nur auf der Durchreise. Du bist von hinten gekommen. Ich habe dich beobachtet, wie du vorbeigegangen bist. Du hast die Leichen gesehen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ich glaube, sie haben die ganze Stadt zusammengetrieben. In der Stadt sind noch mehr. Einige haben sie an den Laternenpfählen aufgehängt. Ich glaube, sie haben sie zusammengetrieben und dann wie früher Selbstjustiz geübt. Allerdings denke ich nicht, dass die Hetzer das der Gerechtigkeit wegen tun.«
»Hetzer?« Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Warum nennst du sie Hetzer?«
»Ich weiß nicht. Das habe ich von Billy. Er sagte, er hätte es von einem Typ im Süden gehört. Sie jagen dich so lange, bis du vor Erschöpfung zusammenbrichst und eine leichte Beute für sie bist. So schonungslos, als wäre es eine Hetzjagd, bei der Jäger das Wild zu Tode hetzen. Nur dass sie nicht auf Tiere Jagd machen.«
»Klingt logisch.« Sie wollte ihn fragen, wer Billy war, doch der Ausdruck in seinen Augen, als er den Namen erwähnte, hielt sie davon ab. Stattdessen hielt sie ihm ihre Hand hin. »Ich bin Clementine.«
»Michael.« Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz, bevor sich seine Finger wieder um die Tasse schlossen. Über den Boden war etwas Flüssigkeit verteilt und sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen. Was aber egal war – hier würde ihn niemand nach seinem Ausweis fragen.
Sie zog die zerbeulte Dose mit Pepsi aus ihrem Rucksack und öffnete sie. Trank einen großen Schluck. Das kohlensäurehaltige Zuckerwasser schmeckte großartig. Sie stellte die Dose auf den Tisch und wartete, dass er etwas sagte. Die Situation war irgendwie unangenehm; sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war schon zu lange her, seit sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen hatte.
Die Sonne war jetzt völlig untergegangen und sie saßen im Halbdunkel da. Bald würde es stockfinster sein und sie würden eine Kerze anzünden müssen. Sie hatte ein paar in ihrem Rucksack, holte sie aber nicht heraus. Sie würden nach hinten gehen müssen. Von dort, wo sie saßen, fiel der Schein einer Kerze zu sehr auf.
»Wo willst du hin?«, fragte er schließlich.
Sie war froh, dass er endlich den Mund aufbekommen hatte. Diese Frage konnte sie beantworten. »Seattle. Mein Bruder Heath ist dort. Zumindest hoffe ich, dass er dort ist, ich weiß es nämlich nicht genau. Nach dem Erdbeben konnten wir ihn nicht erreichen und meine Mom und ich wollten eigentlich zusammen an die Westküste fahren. Aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen. Meine … meine Eltern wurden erschossen, zusammen mit allen anderen aus meiner Stadt. Ich glaube … nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Einzige bin, die lebend herausgekommen ist.«
»Dann hast du also Glück gehabt?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Könnte man wohl so sagen. Und du?«
In seinen Augen blitzte Wut auf. Seine Finger an der Tasse packten so fest zu, dass sie ganz weiß wurden. »Meine Familie ist tot«, sagte er schließlich mit zusammengebissenen Zähnen. »Jedenfalls glaube ich das. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit diese Sache hier angefangen hat. Von der Gruppe, mit der ich unterwegs war, sind auch alle tot. Die Hetzer haben uns gefunden, und wenn es dir recht ist, würde ich lieber nicht darüber reden.«
»Tut mir leid.«
»Es ist nicht deine Schuld.« Er holte eine Flasche Whiskey vom Sitz neben sich und schenkte sich ein. »Willst du auch einen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie machte sich nichts aus Alkohol.
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