Dark Inside (German Edition)
als ungewohnte Herausforderung. Zweige verfingen sich in ihren Haaren. Nach kurzer Zeit waren ihre Arme mit Kratzern übersät und zweimal verfing sie sich mit den Füßen in irgendwelchen Wurzeln, die keinen anderen Zweck zu haben schienen, als sie stolpern zu lassen.
Im Dämmerlicht konnte sie eine Lichtung vor sich erkennen. Aufgeregt zwang sie sich weiter. Sie kletterte über einige Felsen und umging einen riesigen Baumstumpf. Das Gelände breitete sich vor ihr aus, ein sonderbares Puzzle, das ihre volle Konzentration erforderte. Sie achtete so intensiv auf jeden ihrer Schritte, dass sie um ein Haar mit dem Gesicht gegen die Beine geprallt wäre. Ein leiser Schrei entwich ihrer Kehle, als sie den Kopf hob und den Körper sah, zu dem die Beine gehörten.
Sie wich zur Seite aus und prallte gegen den nächsten Körper, der sich langsam zu drehen begann.
Sie waren überall. In den Bäumen hingen Dutzende von Leichen. Bei einigen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie bewegten sich in der leichten Brise hin und her. Die Seile an ihren Hälsen reichten bis in die oberen Äste der Bäume. Clementine ging weiter auf die Lichtung hinaus, bis sie von Leichen umgeben war. Verwesungsgeruch traf sie wie eine Keule. Ihr drehte sich der Magen um und das Wasser, das sie vorhin getrunken hatte, stieg ihr in die Kehle. Sie zog ihre Bluse über Nase und Mund und hielt den Atem an.
Sie ließ ihren Blick über die Lichtung streifen, bis sie einen Weg fand, der sie aus diesem Friedhof herausführte, ohne dass sie noch mehr der Leichen berühren musste. Keuchend rannte sie über die Wiese und blieb erst wieder stehen, als sie die Tankstelle erreicht hatte.
Sie würde hineingehen und sich nehmen, was sie brauchte. Die Schlüssel für eines der Autos auf dem Parkplatz suchen und zusehen, dass sie hier wegkam. Sie würde keine Sekunde länger als nötig hierbleiben. Nicht, wenn so viele Leichen in der Nähe waren.
Die Eingangstür der Tankstelle war zertrümmert worden. Glassplitter lagen auf dem Boden und sie versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu machen, als sie auf das Glas trat. Der Verkaufsraum war verwüstet worden. Schokoriegel, Kartoffelchips und alle möglichen Knabberartikel lagen in den Gängen. Kanister mit Motoröl waren geöffnet und gegen die Wand geworfen worden, wo sie ein schwarz glänzendes Muster auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Fußabdrücke führten hinter den Tresen, wo eine offene Kasse stand, die ausgeräumt worden war. Daneben lagen Zigarettenpackungen verstreut.
Die Glastüren des Kühlschranks waren zertrümmert. Er war fast leer, doch es gelang ihr, ein paar Flaschen Wasser und eine Dose Pepsi mit einer großen Delle zu finden.
Direkt hinter dem Verkaufstresen führte eine Tür in ein Restaurant. Clementine wollte ihr Glück dort drüben versuchen. Mehr als alles andere in der Welt sehnte sie sich nach etwas zu essen, das nicht aus einer Konservendose kam. Als sie an einem umgekippten Kaugummiautomaten vorbeiging, achtete sie darauf, nicht auf die bunten, murmelgroßen Kugeln zu treten. Ein gebrochener Knöchel war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte.
Im Restaurant war es fast dunkel. Die Sonne war inzwischen beinahe vollständig untergegangen und nur noch als schwaches rötliches Glühen am Himmel zu erahnen. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Kaffeekannen zertrümmert; an den Wänden klebten die Reste von vier Wochen altem Käsekuchen.
Den Typ in der Ecke hätte sie gar nicht gesehen, wenn er sich nicht gerührt hätte. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und überlegte, wie viele Schritte es bis zur Tür waren und ob sie es bis dorthin schaffen würde, bevor er sie packte.
»Keine Angst«, sagte er. »Ich bin normal.«
Er saß in einer Nische auf einer Bank, in der Hand eine Tasse, die er gedankenverloren auf dem Tisch herumschob, als warte er auf eine Kellnerin, die ihm Kaffee einschenkte. Er war jung, etwa in ihrem Alter, mit langen braunen Haaren, die er sich aus dem Gesicht gekämmt und hinter die Ohren gestrichen hatte. In dem schwindenden Licht konnte sie seine Augen nicht erkennen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht böse. Er sah traurig aus. Aber inzwischen sahen ja alle traurig aus.
»Ach ja?«, fragte sie. »Und warum sitzt du dann hier im Dunkeln?«
»Wo soll ich denn sonst hin?«
Sie nickte. Das verstand sie sehr gut.
»Du kannst dir ruhig holen, was du willst. Ich werde mich nicht von der Stelle rühren.« Der Junge hob die Hände und
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