Dark Inside (German Edition)
seinem Gesicht gesehen hatte. Zuerst hatte er sich darüber geärgert, dass er die Gesellschaft seiner neuen Freunde so genoss. Ein beträchtlicher Teil von ihm glaubte immer noch, dass er das nicht verdient hatte. Doch nach einigen Tagen war ihm klar geworden, dass ein wenig Gesellschaft eine Menge ausrichten konnte. Er war einsam, was ihm gar nicht bewusst gewesen war. Neue Freunde zu haben, machte die Nächte etwas einfacher.
»Ich glaube, der Ort ist zu groß«, sagte Paul wieder. Er war derjenige von ihnen, der am vorsichtigsten war. Für Mason war das der Grund, warum Chickadee noch am Leben war. Sie war spontan, immer bereit, etwas zu tun, ohne vorher zu überlegen. Fast kam es ihm so vor, als würde ihr die Gefahr gar nicht bewusst sein. Oder als wäre es ihr egal. Paul war das genaue Gegenteil von ihr: Er nahm sich Zeit, eine Situation einzuschätzen, er dachte lange über alles nach und war sich ständig der Konsequenzen bewusst.
»Die Stadt ist gar nicht so groß«, erwiderte Chickadee. »Ich bin schon mal hier gewesen. Nur Hotels und Bars. Ich glaube, wir sind dort sicher.«
»Wir sollten weitergehen.«
»Die nächste Stadt kommt erst in ein paar Tagen«, sagte sie. »Ich kann nicht so lange warten. Da drüben gibt es einen Safeway. Ich muss in eine Apotheke.« Sie starrte Paul lange an und Mason fiel auf, dass er ihrem Blick auswich.
»Warum musst du in eine Apotheke?«, hakte Mason nach, während in seinem Kopf die Alarmglocken losgingen. »Bist du krank?«
»Ich glaube, ich habe mich erkältet«, sagte sie etwas zu schnell. »Nichts Ernstes.«
Sie sah nicht krank aus, aber eindeutig müde. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, allerdings sahen sie alle so aus, als müssten sie sich mal ordentlich ausschlafen.
»Bist du sicher?« Mason legte ihr eine Hand auf die Stirn, doch Chickadee schob sie schnell wieder weg.
»Es ist nur eine Erkältung, nichts weiter.« Sie biss sich auf die Lippen und runzelte die Stirn. Den Ausdruck kannte er schon. Er bedeutete, dass sie nicht vorhatte, noch etwas zu dem Thema zu sagen.
»Okay, dann gehen wir nach Banff.«
»Zwei gegen einen«, sagte Chickadee.
»Also gut.« Paul stand auf und ging los. Als er in der Mitte der Straße war, blieb er stehen, ohne sich umzusehen. »Kommt ihr?«
Mason und Chickadee sahen sich kurz an und folgten ihm dann.
Sie gingen in der Mitte der Straße weiter. Dort standen nicht so viele Autos, dafür war die Fahrbahn mit Müll übersät. Aufgerissene Koffer – alle durchwühlt –, Verpackungen von Süßigkeiten, sogar ein zertrümmerter Laptop.
»Die Party muss ganz schön wild gewesen sein«, murmelte Chickadee, als sie einer zerbrochenen Ginflasche auswich. »Können wir kurz Pause machen? Ich muss mal.«
»Sicher«, antwortete Mason.
Paul sagte nichts, sondern drehte sich um und kniete sich auf die Straße, um sich etwas anzusehen. Chickadee holte ein paar Papiertaschentücher aus der Tasche und rannte in den Wald. Mason sah ihr nach und merkte sich, wo sie zwischen den Bäumen verschwunden war, bevor er seine Aufmerksamkeit auf einen herrenlosen iPod richtete. Er hob ihn auf und versuchte, ihn einzuschalten, doch die Batterie war tot.
»Sie ist nicht meine Freundin«, sagte Paul.
»Wie bitte?«
»Wir gehen nicht miteinander. Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du uns für ein Paar hältst. Aber das sind wir nicht. Chee und ich kennen uns schon seit dem Sandkasten. Sie ist wie eine Schwester für mich. Sie ist unglaublich zäh. Ihre Kindheit war schlimm. Beide Eltern waren Alkoholiker. Sie haben sie auch geschlagen. Manchmal ist sie mitten in der Nacht zu mir gekommen und war grün und blau geschlagen. Früher habe ich mir immer gewünscht, ich könnte ihr helfen, könnte dafür sorgen, dass es aufhört. Aber damals war ich noch zu klein dazu und jetzt ist es zu spät. Ich wollte, dass du das weißt.«
»Warum?«
»Ich werde nicht danebenstehen und zusehen, wie sie leidet.«
Mason zuckte mit den Schultern. »Ich auch nicht. Deshalb finde ich es ja gut, dass wir zu zweit sind. Wir können sie beschützen.«
»Wir können sie nicht vor allem beschützen.«
»Wie meinst du das?«
Paul gab ihm keine Antwort. Chickadee kam mit wild tanzenden Zöpfen aus dem Wald gerannt.
»Schon viel besser«, rief sie. »Na dann los – jetzt mischen wir die Stadt auf.«
Am Stadtrand stand ein Schild mit einer kurzen Geschichte von Banff. Jemand hatte mit leuchtend roter Farbe die Worte Jagdrevier der Hetzer über den Text
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