Dark Kiss
zum Glück das Festnetz. Nach dem fünften Klingeln nahm ihre Mutter endlich ab und sagte mir, dass Carly nicht zu Hause war. Sie war ausgegangen – und ich wusste, wohin.
„Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist“, sagte Mrs Kessler. „Sie verhält sich diese Woche so seltsam.“
Mein Magen verkrampfte sich. „Tatsächlich? Inwiefern?“
„Sie ist … anders als sonst. Und da ist etwas Sonderbares in ihrem Blick. Als wäre sie mit den Gedanken eine Million Meilen entfernt. Trifft sie jemanden, der dafür verantwortlich ist? Sie will mir nichts erzählen. Ich weiß wirklich nicht, was sich verändert hat. Ist es dir auch aufgefallen?“
Ich umklammerte das Telefon, bis meine Hand schmerzte. „Ja, aber ich bin mir sicher, es ist nur so eine Phase.“
Ich hasste es, zu lügen. Das war nicht vorübergehend, aber ich hatte auch noch nicht akzeptiert, dass es permanent war.
Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es nicht noch schlimmer wurde.
„Ich weiß nicht, Samantha. Der Blick, den sie mir heute Abend zuwarf, als ich sie davon abhalten wollte, auszugehen – na ja, eigentlich jeden Abend diese Woche –, der hat mir Angst gemacht. Sie will mir nicht einmal sagen, wohin sie geht und mit wem. Ich hatte gehofft, sie sei mit dir unterwegs.“
Ich lehnte mich an den Küchentresen und versuchte ruhig zu atmen. „Es tut mir leid.“
„Es ist nicht deine Schuld. Teenager können sich manchmal von einem Augenblick auf den anderen verändern. Das weiß ich. Aber das …“ Ihre Stimme bebte. „Ich fürchte mich davor, dass meine Carly sich für immer verändert haben könnte.“
Es versetzte mir einen Stich. „Ich auch.“ Ich beendete das Telefonat, und mir war übel, allerdings wusste ich jetzt mit Gewissheit, wo Carly sich aufhielt. Im Crave. Mit Natalie. Mit Stephen. Und mit einer üppigen Anzahl an Teenagern, die den Hunger weiter anfachten und dafür sorgten, dass man die Kontrolle verlor.
Ich rannte aus dem Haus. Ich musste Bishop finden, bevor er Carly traf … wenn das tatsächlich sein Plan war. Sonst hätte ich nicht gewusst, wo ich hingehen sollte. Ich konnte ihn nicht auf diese Weise verlieren. Nicht solange er bei klarem Verstand war. Niemals. Ich konnte nicht zulassen, dass er Carly küsste. Und mein Herz raste noch aus einem anderen Grund – Eifersucht. Das war irrational, mir war das klar. Das war kein romantischer Kuss. Er würde es tun, weil er glaubte, er habe keine andere Wahl.
Bishop gehört mir.
Das war ein heftiger und beängstigender Gedanke, der mich für einen Moment überkam, und ich blieb kurz auf dem Gehweg stehen. Ich kannte ihn weniger als eine Woche. Doch das änderte nichts. Er hatte mein Herz im Sturm erobert. Er warmein Herz. Vielleicht war er auch meine Seele. Dieser romantische Gedanke ließ mich nicht wie in der Vergangenheit die Augen verdrehen. Stattdessen beängstigte er mich. Es war die schlichte Wahrheit. Ich hatte mich so heftig in ihn verliebt, dass ich am Boden zerstört zurückbleiben würde. Ich würde ihn retten! Auch vor mir selbst. Und wenn Carly es wagte, ihn zu küssen, würde ich ihr eine verpassen.
„Wunderschöner Stern.“ Eine Stimme drang durch meine finsteren Grübeleien. „Sie ist heute gekommen, um die Welt zu retten und für uns alle gegen die Dunkelheit zu kämpfen.“
Der Obdachlose – der gefallene Engel – blickte von seinem Platz auf dem Bürgersteig zu mir auf, die Beine auf der Straße ausgestreckt. Dunkle verschlissene Jeans und ein graues Sweatshirt, das schon mal bessere Tage gesehen hatte, machten das Bild komplett. Es war verwirrend, wie sehr er mich an meine erste Begegnung mit Bishop erinnerte.
„Du hast dir heute einen anderen Platz ausgesucht“, stellte ich fest. Ich war auf halbem Weg zum Crave.
„Ich bewege mich. Meine Beine helfen dabei.“
„Ja, ich bin mir sicher, das tun sie.“ Ich sah mit ernstem Blick auf ihn hinunter und studierte sein Gesicht, um vielleicht Hinweise darauf zu finden, wie ich ihm helfen konnte – und wie ich Bishop retten konnte. „Wie ist dein Name?“
Er seufzte. „Ich hatte vor langer Zeit einen Namen.“
„Wie war der?“
„Seth“, sagte er nach einer Weile, als hätte er sich sehr stark konzentrieren müssen, damit er sich erinnern konnte. „Seth denkt an den Atem. Seth denkt an den Tod. Die zwei Seiten einer Münze, Atem und Tod. Verliere den einen und gewinne den anderen – ein Geschenk oder ein Fluch, aber ich schätze, das liegt bei dir. Oder
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