Dark Love
Tagebuch herunter!«
»Aufzieh-Spielzeuge! Einfach perfekt für die Ferien! Hunde, Ponys, Ballerinas!«
In Geschäften und Privathäusern leuchteten Bildschirme, auf denen überall die gleiche Übertragung lief. Die Aufnahmen zeigten die Korrespondenten, die vor dem Rathaus auf die geladenen Gäste zur Rede des Premierministers warteten. Von digitalen Plakaten regneten Werbespots auf uns herab, als wir vorübergingen. Sie lasen die Chips an unseren Handgelenken und passten die Produkte an die verfügbaren Daten an. Da ich ein sechzehnjähriges Mädchen war, wurde angenommen, dass ich mich für Gesichtscreme, die neue Frühjahrsmode und Schmuck interessierte. Doch nur Isambard drehte sich nach den Spots um. Der Himmel über uns war voll von silbernen Zeppelinen. Die meisten davon gehörten dem Militär, aber einige zeigten auch Ausschnitte neuer TV -Spielshows.
Unter den Markisen der Läden und Theater verkauften junge Frauen in abgetragener, aber sauberer Kleidung aus Körben Gemüse und Blumen. Eine von ihnen hatte eine kleine Gitarre und sang »Greensleaves«.
Bewegt betrachtete ich die Blumenmädchen. Ich schwor mir: Wenn Nora jemals zu mir zurückkäme, würde ich den hässlichsten, stinkendsten Mann der Welt heiraten, um mit seinem Geld jede Blume der Stadt zu kaufen und Nora mit ihrem Duft und ihrer Schönheit zu bedecken.
Wir gehörten zu den ersten, die im Rathaus ankamen. Sie hatten Barrikaden gegen die Presseleute aufgebaut, sodass wir zwar ihren Rufen ausgesetzt waren, aber ungehindert vorbeischlüpfen konnten. Mein Vater, der seinen besten Anzug trug und sich das Mehl aus den Haaren gebürstet hatte, reichte dem Wachmann unsere Einladung. Er nickte beflissen mit dem Kopf und wandte sich ab, um uns hineinzuführen.
Das Rathaus war ein Bau aus Stahl und Granit. Die Böden waren aus Marmor, in die Wände waren Reliefs früherer Premierminister gemeißelt, und an der Decke prangte ein Gemälde, auf dem die Sintflut zu sehen war. Ein häufiges Motiv im neuviktorianischen Design, da unsere Vorfahren sich als Überlebende einer Flut aus Asche, Eis und Schnee betrachteten.
»Du meine Güte«, hörte ich meine Mutter ehrfürchtig flüstern.
Wir wurden in den zweiten Stock geleitet, wo sich ein ganz in Samt und Gold gehaltenes Amphitheater befand, das über fünfhundert Menschen Platz bot. Arbeiter hasteten über die Treppen und im Hintergrund bauten Presseleute ihre Ausrüstung auf. Über der Bühne waren auf einem Streifen hellen Marmors die Worte »Fleiß, Ehre, Anstand, Glaube« eingraviert.
»Der Premierminister wäre geehrt, wenn Sie hier in der ersten Reihe Platz nehmen würden«, erklärte uns der Wachmann. Mein Bruder erlitt bei diesen Worten fast einen Herzanfall. Als wir unsere Plätze einnahmen, setzte meine Mutter sich zwischen ihn und mich, wofür ich dankbar war.
Ich erkannte einige der Leute, die sich in unserer Nähe niederließen. Ein paar Mal kam es sogar dazu, dass eine Klassenkameradin und ich unsere jeweiligen Familien miteinander bekannt machen mussten. Es bereitete mir ein diebisches Vergnügen, meinen Bruder zuletzt vorzustellen. Jedes Mal. Es wurde uns versichert, man werde für Noras sichere Rückkehr beten, und wir bedankten uns. Als sich der Raum jedoch weiter füllte, endeten die gegenseitigen Vorstellungen und wir waren einfach nur eine der vielen Familien in der plappernden Menge.
»Wie viele von ihnen du doch kennst«, flüsterte Isambard mir in selbstgefälligem Ton zu. Ich ignorierte ihn, denn es stimmte. Ich hatte in den letzten Jahren schließlich mehr Zeit mit ihnen verbracht als mit meiner eigenen Familie.
Und dennoch wusste ich im Grunde meines Herzens, dass sie mich niemals als eine der Ihren akzeptieren würden. Issy konnte das nicht verstehen. Ihm erschien alles so einfach.
Zehn Minuten später betrat der Vizepremierminister die Bühne und die Gaslampen an den Wänden wurden heruntergedreht. Das Hüsteln verstummte und die Damen fächelten sich im künstlichen Zwielicht Luft zu, ein endloses Rauschen körperloser Flügel.
»Ladys und Gentlemen von New London«, begann der Vizepremierminister. Er war im Alter meines Vaters, seine markanten Gesichtszüge wirkten attraktiv und seine Haut hatte die Farbe sonnenverbrannter Erde. »Ich fühle mich geehrt, Sie alle heute hier willkommen zu heißen, und ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Unser Volk wird in diesen schwierigen Zeiten stark bleiben. Die Fähigkeit, mit dem Leben fortzufahren, wird uns am Ende
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