DARK MISSION - Fegefeuer
Haltegriff oberhalb der Beifahrertür, als die Fahrerkabine beunruhigend schaukelte. »Terroristen, die eine verdammte Menge erschreckenden Scheiß tun, alles im Namen eines höheren Ideals, das es ihnen erlaubt, über Leichen zu gehen.«
Jessie setzte sich auf, straffte die Schultern. Verflucht, ein Zirkel! »Und Sie glauben, Caleb hängt mit denen zusammen?« Es kostete sie einige Anstrengung, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Neugierig, doch nicht voller Panik.
Zirkel hieß: mehrere Magiebegabte auf einem Haufen. Mehrere Magiebegabte auf einem Haufen aber hieß, dass die Mission sich einmischen würde. Gemetzel. Hetzjagden. Tod und Verderben.
Energisch schüttelte Jessie den Kopf, die unerschütterliche Treue zu ihrem Bruder in Person. »Ganz sicher nicht. Ganz sicher ist mein Bruder nicht Mitglied einer terroristischen Gruppe, niemals!«
Silas Smith blickte nicht zu ihr herüber. »Vielleicht hast du recht.«
»Nein«, wiederholte Jessie mit fester, lauter Stimme, »nicht vielleicht! « Sie verlagerte ihr Gewicht, wurde in den Sitz gedrückt, als ein schwerer Transporter auf der New-Seattle-Tangente an ihnen vorbeirauschte. »Als Caleb dreizehn war, hat er aus Versehen mit seinem Motorrad eine Katze überfahren. Er hat tagelang geheult, Agent Smith. Tagelang! Und Sie wollen mir weismachen, er sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung? Vergessen Sie’s!«
Jessie konnte sich an den Vorfall gut erinnern. Sie hatte ihren kleinen Bruder im Arm gehalten, während er geschluchzt hatte. Damalshatte sie gewusst, dass es nichts gab, was sie hätte tun können, um ihm zu helfen, ihn zu trösten. Er hatte ihr gesagt, dass er es doch eigentlich hätte kommen sehen müssen. Seine Gabe war ja der Blick in die Zukunft.
Jessie hatte ihm erklärt, so funktioniere es halt nicht. Aber sie war nicht in der Lage gewesen, ihm zu erklären, warum das so war. Sie hatte es nie gekonnt, damals nicht und auch später nicht.
»Ein Jahr kann einen Mann ziemlich verändern«, gab der Jäger zu bedenken, unerbittlich wie Granit. Und ebenso zartfühlend.
»Er ist noch kein Mann! « Sie machte eine abwehrende Handbewegung und wünschte sich, sie könnte den Hexenjäger aus seinem Pick-up stoßen, gleich jetzt, bei diesem Tempo. »Er ist mein Bruder . So sehr könnte er sich gar nicht verändern. Ich sag’s noch einmal: Selbst wenn er da ist, wo Sie glauben, ist er keiner von denen . Egal, wer die nun sind.«
»Wenn du meinst.« Silas blickte auch jetzt nicht zu ihr herüber, sondern schaltete erneut, dieses Mal in einen niedrigeren Gang. Am liebsten hätte Jessie den Steinklotz von Jäger angebrüllt. Stattdessen ließ sie sich in die Rückenlehne fallen und biss die Zähne zusammen.
»Wie ich schon sagte: Wir wollen seine Verbindung zu der Gruppierung nutzen, um sie zu infiltrieren und dann hochzunehmen. Für einen Jungen, der uns dabei hilft, ist da jede Menge drin.«
Hübsche Lippenbekenntnisse, mehr nicht. Jessie erkannte Formulierungen wie diese als das, was sie waren: die Scheu, ein Versprechen zu geben. Wenn die Kirche hinter Caleb her war, wenn er tatsächlich so sehr den Verstand verloren haben sollte, dass er sich allen Ernstes einem Zirkel angeschlossen hatte, hätte er keine Nachsicht zu erwarten – nicht von der Kirche. Ganz egal, wie nützlich er ihr zu sein versuchte. Nein, dachte Jessie, während sie jetzt auch den zweiten Stiefel gegen das Armaturenbrett stemmte. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass sie diesen ganzen Mist sowieso niemandem abkaufen würde. Ganz bewusst ignorierte sie, dass der Jäger ihre Art, es sichin seinem Truck bequem zu machen, mit einem Stirnrunzeln quittierte.
Jessie steckte die Hände unter die Achseln. Nachdenklich starrte sie aus dem Fenster. Der Pick-up wechselte erneut die Spur, fuhr jetzt auf eine der mittleren Abfahrtrampen im Karussell auf.
Caleb war es gelungen, seiner Schwester ein ganzes verdammtes Jahr aus dem Weg zu gehen. Es war ihm so vollständig gelungen, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. In dem Schlund verschwunden, dem uralten Tiefseegraben, der sich weit unterhalb der Fundamente der Stadt aufgetan hatte. Auch die Kräfte, die Jessie selbst besaß, hatten ihr nicht weitergeholfen – ihre Gabe .
Ihre Gabe war der Blick in die Gegenwart. Eigentlich hätte sie in der Lage sein müssen, Caleb aufzuspüren. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Er hatte, egal, wo er gerade war oder was er gerade tat, gelernt, sie abzublocken.
Oder er war tot.
Aber
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