DARK MISSION - Fegefeuer
Schicksal!
Was jetzt? Jessie stand mitten in dem leeren Zimmer und betrachtete den abgewetzten, fleckigen Teppich. Immer und immer wieder ging ihr die eine Frage im Kopf herum: Warum war Silas fort? Brauchte er sie nicht für seine Jagd? War sie nicht der Köder, mit dem er Caleb schnappen wollte?
Brauchten die Jäger nicht ihre Hilfe?
Oder hatte Silas sie angelogen?
Wie Schmieröl im Getriebe brachte eine aufkeimende Idee Jessies Gedanken erst recht auf Trab. Eine sehr verlockende Idee. Sie könnte Silas ausspionieren. Schauen, wo er abgeblieben war.
Es sehen .
Nervös bewegte Jessie ihre Finger und lockerte sie. Sie hatte ihre Gabe schon eine ganze Zeit lang nicht mehr genutzt. Das letzte Mal hatte sie vergeblich versucht, Caleb zu finden. Ihre magischen Kräfte waren wie in einer Monsterwelle auf sie zurückgeworfen worden. Eine ganze Woche lang war Jessie die höllischen Kopfschmerzen nicht mehr losgeworden.
Aber bei Silas war das etwas anderes. Nichts derart Machtvolles beschützte ihn.
Es könnte die Sache wert sein. Jessie erführe mehr als nur das. Sie könnte erfahren, was Silas Smith, der Hexenjäger und mieseste aller Hundesöhne, hinter ihrem Rücken so alles tat und was er mit ihr vorhatte. Sie erführe außerdem, was das ganze Team von Hexenjägern um ihn herum plante.
Er würde sie sowieso nur wieder anlügen, oder nicht?
Enttäuschung prickelte gleich unterhalb der Wut, die Jessies Emotionen beherrschte. Scheinheilig war das, das wusste Jessie genau.Schließlich hatte sie auch nichts anderes getan, als Silas nach Strich und Faden anzulügen von Anfang an. Sie hatte also kein Recht, sich darüber aufzuregen, wenn er es genauso hielt. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie enttäuscht war, zumindest ein klein wenig. Er hatte so … so aufrichtig gewirkt. Ein Mann, ein Wort.
»Och, nun mach aber mal halblang, Jessie«, seufzte sie. Sie rieb sich die Beule am Kopf. Kaum mehr schlimm, die Schwellung klang bereits ab. Selbstverständlich hatte Silas Smith aufrichtig gewirkt. Er brachte Hexen um, ganz nach dem Willen der Kirchenwächter. So gesehen war Silas Smith ein aufrechter Mensch, ein ganzer Kerl was sonst?
Wie oft musste Jessie sich noch selbst daran erinnern? Er würde sie sofort töten, gäbe sie ihm Gelegenheit dazu. Entschlossen ging sie zurück ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Stiefel auszuziehen.
Der Länge nach streckte sie sich auf dem Bett aus. Dann bedeckte sie mit einem Arm die Augen; die andere Hand ruhte auf ihrem Herzen. Jessie spürte, wie es bei jedem kräftigen Schlag dumpf gegen ihre Handfläche pochte, zuverlässig, unbeirrbar.
Es gab einen Kniff, einen Trick, um die Gabe freizusetzen, die Jessie tief in ihrem Inneren fest im Zaum hielt. Vor langer, langer Zeit hatte sie neben ihrer Mutter gesessen und ihr dabei zugesehen. Beide hatten sie Gegenstände benutzt, um sich zu sammeln. Amulette. Kerzen. Steine. Lydia hatte ihre Tochter alles gelehrt, sie angeleitet. Stets war ihre Stimme sanft gewesen, ihre Hände zärtlich.
Aber seit dem Blutgericht hatte sich alles geändert. Alles. Seither benutzte Jessie nichts mehr, was Aufmerksamkeit hätte erregen können. Keine Zauberbücher, keine Zaubersprüche. Keinen Fokus. Sie selbst war ihr einziges Werkzeug.
Das machte sie schwächer. Aber es sicherte auch ihr Überleben. Menschen reagierten in der Regel nervös, wenn ein blondes Ding wie sie plötzlich Steine in der Hand hielt oder ein Messer.
Fest schloss Jessie die Augen. Dann holte sie tief und sehr bewusst Atem. Sie zählte ihre Herzschläge. Sie sammelte sich, suchte ihre Mitte.Sie musste ihr inneres Gleichgewicht finden, den einen Ort der Stille tief in ihrem Selbst.
Die Magie floss durch diese Mitte, den Kern ihres Seins. Dort war sie, leuchtete hell, sprudelte lebendig wie eine heiße, heilende Quelle, die Wärme und Energie schenkte. Es hatte Jahre gedauert, bis sich Jessie an den Fluss der Magie gleich unterhalb ihrer äußeren Hülle gewöhnt hatte, Jahre, bis die Gabe ihr vertraut geworden war. Jetzt pulsierte die Magie in ihr. Sie brannte darauf, freigesetzt zu werden. Sie brannte darauf, benutzt zu werden.
Jessie stellte sich Silas vor. Ein Schauer durchlief sie, als sein Bild überraschend klar vor ihrem inneren Auge erschien, ganz mühelos. Sie sah ihn vor sich. Sie sah sein Lächeln, dieses strenge, flüchtige Lächeln. Sie sah vor sich, wie seine Augen sich verdunkelten, wenn er wütend
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