DARK MISSION - Fegefeuer
hätte es sich zweimal überlegt, sich mit einem Mann von solch enormer Willenskraft anzulegen.
Jessie atmete ganz langsam, ganz ruhig aus, als der eisengraue Mann wieder zu sprechen begann. »Siebenunddreißig Menschen«, wiederholte er. »In einem einzigen Jahr. Caleb Leigh hat persönlich mindestens fünf dieser Opfer zu verantworten.«
Auf der kalten Matratze verspannte sich Jessies ganzer Körper, als wäre er eine Bogensehne kurz vor dem Schuss. Ihre Konzentration nahm noch zu. Noch mehr Lügen. Es konnten nur Lügen sein.
»Ich kenne die Fakten«, begann Silas und wollte mehr sagen. Aber der Mann, der sein Vorgesetzter sein musste vielleicht auch jemand, der weitaus höher in der Missionshierarchie aufgestiegen war , hob die wettergegerbte Hand. Er schnitt Silas das Wort ab. Er guillotinierte es förmlich.
»Wir können davon ausgehen, dass der Zirkel sämtliche Angehörigen der New-Seattle-Mission beobachtet. Sie gehören nicht dieser Mission an.«
»Ich denke nicht …«
»Sie sind nicht hierher gerufen worden, um zu denken, Silas Smith!« Die Art und Weise, wie der eisengraue Mann Silas bei seinem vollen Namen nannte, ließ Jessie ihre Zähne zusammenbeißen. Es klang unglaublich herablassend. Der Ton war spitz, arrogant. »Sollte also die Schwester mit dem Jungen unter einer Decke stecken, würde auch sie uns auf Anhieb als das erkennen, was wir sind.«
Jetzt schon, du verlogener, mordgieriger Schweinepriester! Alle würde sie erkennen. Wieder flimmerte das Bild vor Jessies Augen, als ihre Wut die Konzentration überlagerte, die notwendig war, um die Magie zu steuern. Hastig sorgte Jessie für Ruhe, ließ Wut und Adrenalin abebben.
Verflucht noch mal, war sie eingerostet! Sie verschränkte die Hände über der Brust.
Gleich darauf stellten sich Jessie sämtliche Nackenhaare auf, als der eisengraue Mann mit noch eisigerer Stimme fortfuhr: »Und deshalb müssen wir einen Fremden einsetzen auf diesem Schlachtfeld von einer Stadt. Sie, Mr. Smith! Nur Sie können die Schwester benutzen, um den Jungen aufzuspüren. Nur Sie können ihn mit Hilfe des Mädchens dieser Mission überantworten und, wenn möglich, die Stabilität des Zirkels untergraben.«
Silas starrte auf den Tisch, ballte die Fäuste und öffnete sie wieder.Naomi beobachtete ihn; träge umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Der Glatzkopf tat, als gehöre seine ganze Aufmerksamkeit einem seiner Daumennägel, die Augenbrauen zusammengezogen. Der Missionar mit der tragenden Stimme hatte sein Pokergesicht aufgesetzt; seine Geduld schien unerschütterlich.
Jessie beobachtete das alles gespannt. Würde Silas sich weigern? Würde er sie, die Schwester eines Hexers, und Caleb, den Hexer, den die Mission für einen Mörder hielt, diesen Leuten ausliefern?
Silas wandte das Gesicht ab. »Also schön«, sagte er, »ich benutze sie, um den Zirkel zu unterwandern.«
»Sie bleiben mit Ihrem Team in Kontakt …« – Jessie sah, wie ein Muskel in Silas’ Gesicht zuckte –, »immer und überall«, beendete sein Vorgesetzter den Satz.
»Nein …«
Naomi veränderte ihre Sitzposition auf der Tischkante. »He, Moment mal, verdammt!«, mischte sie sich jetzt ein. »Was ist mit uns anderen, Peterson? Soll das heißen, wir dürfen die ganze Zeit über nur still auf unseren Hintern sitzen und Däumchen drehen?«
Silas klappte den Mund zu.
»Was diesen Einsatz angeht, ja.« Die Frau presste die Lippen zusammen, als Peterson seine ganze Aufmerksamkeit auf sie richtete. »Je weniger wir in Bewegung setzen, desto geringer ist das Risiko, vorzeitig aufzufliegen. Das restliche Team wird mit einer anderen Sache betraut. Lagebericht an mich in einer Stunde!«
Der Glatzkopf pfiff überrascht auf. Eine auffällige Drei-Ton-Folge. »Nur so aus Neugier«, fragte er, und sein ernster Blick war Vorsicht in Reinkultur. »Smith spielt doch nicht etwa den Anführer für uns fröhliche Gauner, oder doch?«
Silas straffte die Schultern. »Zum Teufel, nein!«
Einen Herzschlag lang passierte gar nichts. Dann war Petersons Bariton zu hören: »Ich habe das Kommando, niemand sonst. Wegtreten! Sie, Mr. Smith, bleiben!«
»Na, aber mal langsam! Welche andere Sache …«
»Ich sagte: Wegtreten , Miss West!«
Jessie saß jetzt aufrecht auf dem schmalen Bett. Es roch nach Staub in dem Missionsversteck, und halb hing ihr der Geruch des alten Teppichs in der Nase. Daneben aber gab es nur den lichtdurchfluteten Saal mit seinem herrlich alten Mobiliar. Schweigen
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