Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
seine langen Zähne schimmerten im dunklen Auto.
»Libby, welchen Namen hat dein Bruder sich auf den Arm tätowieren lassen? Erinnerst du dich, was wir uns alles überlegt haben? Molly, Sally und dann noch den Hundenamen?«
»O Gott.«
»Polly, richtig?«
»O Gott«, sagte ich noch einmal.
»Ich meine, das kann doch kein Zufall sein, oder?«
Natürlich war es kein Zufall. Jeder, der ein Geheimnis hat, brennt im Stillen darauf, es in die Welt hinauszuposaunen. Und das war nun Bens Art, sich zu verraten. Seine Hommage an seine heimliche Freundin. Da er sich nicht ›Unauffindbare Diondra‹ eintätowieren lassen konnte, nahm er den Namen, den seine Freundin immer wieder im Scherz benutzt hatte. Ich stellte mir vor, wie er mit dem Finger über die geschwollenen Schriftzeichen fuhr, über die Haut, die noch brannte, voller Stolz. Polly. Vielleicht war es eine romantische Geste. Vielleicht nur noch ein Andenken. Der Regen hatte etwas nachgelassen, als ich den Blinker setzte und wieder auf den Highway fuhr.
»Ich frage mich, wie alt das Tattoo ist«, sagte Lyle.
»Es hat eigentlich nicht sehr alt gewirkt«, meinte ich. »Es war, keine Ahnung, immer noch ganz klar, überhaupt nicht verblasst.«
Lyle schnappte sich seinen Laptop und balancierte ihn auf den Knien.
»Komm schon, komm schon, gib mir eine Verbindung.«
»Was machst du denn da?«
»Ich glaube nicht, dass Diondra tot ist. Ich glaube, sie ist im Exil. Und wenn du ins Exil gehen würdest und dir einen Namen aussuchen müsstest, wärst du dann nicht in Versuchung, einen zu nehmen, den du früher schon mal hattest, einen, den nur ein paar wenige Freunde kennen, ein kleiner Witz für dich selbst und gleichzeitig ein bisschen … Heimat? Etwas, was dein Freund sich auf den Arm tätowieren lassen kann, weil es für ihn eine Bedeutung hat, etwas Dauerhaftes, das er sich immer anschauen kann. Jetzt
komm
aber endlich«, schnauzte er seinen Laptop an.
Wir fuhren ungefähr zwanzig Minuten, zuckelten über die Highways, bis Lyle endlich eine Verbindung bekam und im Rhythmus des Regens zu tipp-tapp-tippen begann. Ich versuchte, ohne uns umzubringen, einen Seitenblick auf das Display zu erhaschen.
Schließlich blickte Lyle auf, ein irres Strahlelächeln im Gesicht: »Libby«, sagte er, »ich glaube, du solltest noch mal anhalten.«
Sofort schwenkte ich auf den Seitenstreifen, kurz vor Kansas City. Ein Schwerlaster hupte laut angesichts meiner Unbesonnenheit und brachte das Auto im Vorbeirauschen zum Erzittern.
Ihr Name stand auf dem Bildschirm: Polly Palm, wohnhaft in Kearney, Missouri. Adresse und Telefonnummer, direkt vor unserer Nase, die einzige Polly Palm im ganzen Land, mal abgesehen von einem Nagelstudio in Shreveport.
»Ich muss mir endlich einen Internetanschluss einrichten lassen«, sagte ich.
»Glaubst du, das ist sie?«, fragte Lyle und starrte auf den Namen, als hätte er Angst, er könnte wieder verschwinden. »Sie muss es sein, oder?«
»Sehen wir mal.« Ich zog mein Handy aus der Tasche.
Beim vierten Klingeln ging sie dran, gerade als ich tief Luft geholt hatte, um ihr eine Nachricht zu hinterlassen.
»Spreche ich mit Polly Palm?«
»Ja.« Die Stimme war entzückend, Milch und Zigaretten.
»Sind Sie Diondra Wertzner?«
Schweigen. Klick.
»Kannst du den Weg zu ihrem Haus rausfinden, Lyle?«
Lyle wollte mitkommen, unbedingt, er war wirklich, ehrlich, ganz entschieden der Meinung, dass es besser wäre, wenn er mitkäme, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, und ich wollte ihn auch nicht dabeihaben, deshalb setzte ich ihn vor Sarah’s Pub ab, und er versuchte, nicht zu schmollen, als ich wegfuhr und ihm versprach, ihn sofort anzurufen, wenn ich Diondra wieder verließ.
»Ich meine es ernst, vergiss das nicht«, rief er mir nach. »Ganz ernst!« Ich hupte und fuhr davon. Er rief immer noch etwas, als ich um die Ecke bog.
Mit total verkrampften Händen klammerte ich mich ans Steuer. Kearney lag gut fünfundvierzig Minuten nordöstlich von Kansas City, und Lyles sehr spezifischen Angaben zufolge befand sich Diondras Haus noch mal fünfzehn Minuten außerhalb der Stadt. Als die Schilder für die Jesse-James-Farm und für das Grab von Jesse James immer häufiger wurden, wusste ich, dass es nicht mehr weit sein konnte. Warum Diondra sich wohl die Heimatstadt eines Gesetzlosen als Wohnort ausgesucht hatte? Wahrscheinlich hätte ich es genauso gemacht. Ich fuhr an der Ausfahrt zur James-Farm vorbei –
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