Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
am Lenkrad, den Kopf in den Nacken gelegt.
Gerade als ich dachte, jetzt bin ich aber schon ganz nah, erschien wie durch einen Zaubertrick ein winziges Schild am weiten flachen Horizont. Ich wusste genau, was darauf stand:
Willkommen in Kinnakee, dem Herzen Amerikas!
in Fünfzigerjahre-Kursivschrift. So war es auch, und ich konnte in der linken unteren Ecke die Einschüsse ausmachen, wo Runner vor Jahrzehnten von seinem Truck aus auf das Schild geballert hatte. Aber als ich näher kam, sah ich, dass ich mir die Löcher nur eingebildet hatte. Es war ein ordentliches neues Schild, aber mit der gleichen alten Aufschrift:
Willkommen in Kinnakee, dem Herzen Amerikas!
Man hatte die Lüge einfach beibehalten, das gefiel mir. Kaum hatte ich das Schild hinter mir gelassen, kam auch schon das nächste: Kinnakee Kansas State Penitentiary, nächste Ausfahrt links. Ich folgte der Angabe und fuhr nach Westen, über das Land, das früher die Evelee-Farm gewesen war.
Ha, geschieht euch ganz recht, ihr Evelees
, dachte ich, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, was an den Evelees eigentlich so schlimm gewesen war. Ich wusste nur noch, dass sie böse Menschen waren.
Auf der neuen Straße, die ganz am Rand der Stadt lag, drosselte ich das Tempo fast auf Schrittgeschwindigkeit. Kinnakee war nie eine reiche Stadt gewesen – hauptsächlich Farmen im Überlebenskampf und optimistische Sperrholzvillen aus der Zeit eines absurd kurzen Ölbooms. Jetzt war die Lage nur noch schlechter geworden, das Gefängnisgeschäft hatte die Stadt nicht gerettet. Pfandleihhäuser und Gebäude, die kaum zehn Jahre alt und schon am Verfallen waren, säumten die Straße. Kinder standen benommen in ungepflegten Gärtchen. Überall Müll: Lebensmittelverpackungen, Trinkhalme, Zigarettenkippen. Eine vollständige Mahlzeit – Styroporbox, Plastikgabel, Pappbecher – stand auf dem Bordstein, im Stich gelassen von dem, der hier seinen Hunger hatte stillen wollen. Im Rinnstein daneben lag eine Handvoll Pommes mit Ketchup. Selbst die Bäume waren jämmerlich: räudig, verkrüppelt und hartnäckig blütenlos. Am Ende des Blocks saß ein junges untersetztes Paar trotz der Kälte auf einer Bank von Dairy Queen und starrte auf den vorbeizuckelnden Verkehr, als würde es fernsehen.
An einem Telefonmast klebte ein Plakat mit dem körnigen Foto eines ernsten Teenager-Mädchens, das seit Oktober 2007 vermisst wurde. Zwei Blocks weiter glaubte ich das gleiche Plakat zu entdecken, merkte dann aber, dass es sich um ein anderes Mädchen handelte, das seit Juni 2008 vermisst wurde. Beide Mädchen wirkten ungepflegt und mürrisch, was erklärte, warum niemand sich darum riss, über sie im gleichen eindringlichen Stil wie über Lisette Stephens zu berichten. Ich nahm mir vor, ein hübsches Lächelfoto von mir machen zu lassen, falls ich je verschwinden sollte.
Kurz darauf tauchte in einer großen sonnenverbrannten Lichtung das Gefängnis auf.
Es war weniger beeindruckend, als ich es erwartet hatte – bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich es mir vorgestellt hatte. Ein weitläufiger, vorstädtischer Bau, den man ohne weiteres für das Bürogebäude einer Gefriergutfirma oder vielleicht für das Hauptquartier eines Telekommunikationsunternehmens hätte halten können. Abgesehen natürlich von dem Stacheldrahtzaun, der sich an den Mauern entlangschlängelte. Die Drahtschleifen erinnerten mich unwillkürlich an die Telefonschnur, über die Ben und meine Mom gegen Ende dauernd gestritten hatten, das Kabel, über das wir ständig stolperten. Debby wurde wegen der verflixten Schnur mit einer kleinen sternförmigen Narbe am Handgelenk eingeäschert. Ich hustete laut, nur um irgendeinen Laut in der Stille zu hören.
So tuckerte ich auf den Parkplatz, und der Asphalt fühlte sich nach einer Stunde Schlaglöcher wunderbar glatt und geschmeidig an. Von innerhalb der Mauern drang Gemurmel und Rufen von Männerstimmen; wahrscheinlich war gerade Hofgang. Mit einem medizinischen Brennen floss der Wodka durch meine Kehle. Dann kaute ich einmal, zweimal auf einem harten Spearmint-Kaugummi herum und entsorgte ihn in einer Brottüte, während ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Ich griff unter meinen Pulli, machte meinen BH auf und fühlte, wie meine Brüste herabsanken, groß und müde, während im Hintergrund die Geräusche basketballspielender Mörder zu vernehmen waren. Das mit dem BH war ein Rat von Lyle, den er mir stotternd und mühsam nach Worten ringend gegeben
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