Dark Road
Augenblick lang dachte Clovis, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Karte verbarg kein Geheimnis. Oder er hatte auf unerklärliche Weise seine seltsame Begabung verloren.
Dann bildeten sich verblasste, kaum lesbare Worte.
Zuerst wurden die Bezeichnungen der Räume sichtbar. Weinkeller. Lagerräume, Küchen, eine Waffenkammer, ein großer Saal. Schlafgemächer. Dienstbotenkammern. Draußen waren Ställe und etwas, das Wassergarten hieß und sich eigentlich auf dem Dach befand. Alles war in wackeliger Kinderschrift betitelt und die Rechtschreibung war sehr fantasievoll.
Er fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen und setzte zum Sprechen an.
Er konnte Golightly atmen hören.
Immer mehr Wörter erschienen, sehr, sehr langsam, wie aus ferner Vergangenheit hervorgelockt. Clovis sah auf und bemerkte, dass Anselm nicht die Karte, sondern ihn anstarrte.
»Nun, Mr. Greenwood?«, flüsterte er.
»Das ist die Karte eines Hauses«, sagte Clovis.
»Sie meinen doch sicherlich Grundriss«, sagte Mr. Meakin. »Ich habe Ihnen die Fachbegriffe doch beigebracht, oder ...«
»Schh!«, zischte Golightly. Er legte seine Hand auf Clovis’ Schulter und Clovis konnte jeden einzelnen Finger spüren.
»Sie zeigt alle Zimmer«, sagte Clovis und sah immer noch zu Anselm.
»Und?«
»Ich glaube, sie ist sehr alt.«
»Und?«
»Der volle Name der Karte ist Melisandes geheimer Ort. Hier neben dem Wassergarten ist ein Kreuz, und daneben steht in sehr kleiner Schrift: Geheimer Ort unter den Rosen hinter dem Teich mit dem kleinen steinernen Jungen. Draußen bleiben, privat.« Clovis schluckte. »Ich glaube, diese Karte stammt von einem Kind«, fügte er hinzu. »Und hier steht: Für Melisande an ihrem siebten Geburtstag von ihrer geheimen besten Freundin aus der Wildnis.«
»Das kann doch nicht alles sein«, stieß Golightly hervor. »Der Bürgermeister hat nicht all dieses Geld bezahlt, um herauszufinden, wo irgendein Kind im Garten spielte.« Der Griff auf Clovis’ Schulter wurde noch fester. »Und wie hätte deine hoch angesehene Vorfahrin Melisande eine Freundin aus der Wildnis haben können? Dort lebt niemand. Ich gehe davon aus, dass dieser Junge lügt. Dieser ganze Hokuspokus ist doch ein Trick, Anselm.«
Anselm dagegen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Es ist in unserer Familie wohlbekannt, dass Melisande ihr Leben lang darauf bestanden hat, dass sie als Kind ein kleines Mädchen traf, ungefähr in ihrem Alter, und dass dieses kleine Mädchen tatsächlich ein Troll war.Vielleicht stimmte es.Vielleicht hat dieses kleine Trollkind den Grundriss des Hauses und den Garten gezeichnet.«
»Das ist absolut lächerlich, Anselm.« Golightlys Stimme zitterte. »Du machst natürlich einen Scherz.«
»Natürlich«, sagte Anselm. Er sah Clovis unumwunden an, lächelte fast. »Vielen Dank, Mr. Greenwood.«
Dann blickte er zu Mr. Meakin und Steward Golightly auf.
»Wenn Sie uns bitte allein lassen würden, meine Herren. Ich möchte gerne mit Mr. Greenwood unter vier Augen sprechen.«
Golightly sog scharf den Atem ein, als zerschnitte jemand über Clovis Kopf die Luft.
»Natürlich, Sir«, sagte Mr. Meakin.
»Und nicht zu nah bei der Tür warten«, sagte Anselm mit Blick auf seinen Verwalter. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Clovis sah sich nicht um. Er hörte, wie die Tür aufging, und spürte Golightlys Wut, als er hinausging. Dann das Geräusch von Schritten, die sich die Treppe hinunter entfernten.
»Gut«, sagte Anselm. »Wir sind den gierigen Ladenbesitzer und den gefährlichen Affen los.«
Er nahm die gläsernen Briefbeschwerer von der Karte, so-dass sich das Pergament zusammenrollte. Dann schob er es beiseite.
Clovis bewegte sich kaum. In seinem Kopf schwirrten ängstliche Gedanken durcheinander. Er sah Anselm dabei zu, wie er einen langen, elfenbeinfarbenen Zylinder aus seinem Mantel zog. Er war mit dem Scarspring-Wappen, dem Berglöwen, verziert.
Anselms Bewegungen waren flink und elegant. Er hatte ein blasses, kantiges Gesicht und eine Hakennase. Sein dunkles Haar fiel ihm in die Augen und er schob es beiseite. Jetzt zog er vorsichtig ein Stück Stoff aus dem Ende des Zylinders. Es löste sich und er ließ eine weitere Pergamentrolle auf den Tisch gleiten.
»Du wirst niemandem sagen, was du hier siehst«, sagte er und hantierte wieder mit den Briefbeschwerern.
Clovis sah auf die Karte hinab und hätte beinah aufgeschrien. Er legte eine Hand auf die Ecke, die ihm am nächsten war, und presste sie auf den
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