Dark Room
ihre Mutter nur deshalb eine für zwei Töchter genäht hatte, damit sie sich darum stritten, und nicht weil es zu wenig Stoff gegeben hatte. Gemmas Blick traf den ihrer Mutter im Rückspiegel. Zuzutrauen wäre es ihr. Vielleicht hatte sie gedacht, die Trennung würde den Mädchen leichter fallen, wenn sie böse aufeinander waren. Aber das würde nie passieren.
Es war Winter, und der Schneematsch spritzte, als die Häuser weniger wurden und draußen mehr Äcker und Bäume zu sehen waren und die Mutter das Auto beschleunigte. Gemma kam die Fahrt endlos vor, sie musste dringend auf die Toilette, und ihr Herz klopfte laut. Endlich hielten sie an. Ihre Hand klammerte sich am Türgriff fest.
Das Haus war groß und verwinkelt wie dieses Zauberpuzzle aus Holz in ihrem Kinderzimmer, das man zusammenschieben musste, bis es wieder einen Quader ergab. Gemma hatte es oft versucht und doch nie geschafft. Alicia war es zwar ein Mal gelungen, aber sie konnte Gemma nicht zeigen, wie sie es gemacht hatte.
Die Mutter zog Alicia aus dem Auto, legte ihr den Schal enger um den Hals und drückte ihr die Puppe in die Hand. Alicia reichte sie an Gemma weiter. So ging das einige Male, bis die Mutter aufgab und die Mädchen die Anhöhe zum Haus hochwies. Alicia trug ihren kleinen Koffer selbst, sie war schon fast so groß wie die Mutter. Von hinten unterschied sie kaum etwas von einer Erwachsenen. Gemma trottete neben den beiden her. Der Kies unter ihren Füßen knirschte. Es hatte zu schneien begonnen. Schwere, nasse Flocken, die mit einem Piksen auf der Haut schmolzen. Die Mutter atmete schwer, als sie am Haus ankamen. Unten befanden sich Garagen und dunkle Gänge, die in das Gebäude hineinführten, wahrscheinlich zu den Wirtschaftsräumen, der Großküche oder den Materiallagern. Oben reihte sich ein schmales Fenster an das andere, und Gemma fühlte sich von allen beobachtet. »Such dir eine Toilette und warte dann beim Empfang«, herrschte die Mutter Gemma an, die von einem Fuß auf den anderen trippelte. »Ich muss allein mit dem Arzt sprechen.«
Sie führte Alicia die gewundene Steintreppe nach oben, und erst nachdem die beiden hinter der schweren Tür verschwunden waren, fiel Gemma auf, dass sie immer noch die Puppe im Arm hielt.
Sie rannte zum Eingang, aber als der Summer ansprang und sie eintreten konnte, war von ihnen schon nichts mehr zu sehen. Es roch nach Desinfektionsmittel und etwas, das Gemma an Maggi erinnerte. Eine Schwester in gestärkter Schürze sagte streng: »Na, Schätzchen?«, und Gemma ließ sich die Toilette zeigen.
Auf dem Rückweg schlurfte ein alter Mann im Bademantel an ihr vorbei. Ein Speichelfaden lief ihm übers Kinn, und sein Gesicht war aufgedunsen. Er brabbelte pausenlos, rollte dazu mit den Augen, und der Pfleger, der neben ihm ging, umklammerte seinen Arm und zog ihn ungeduldig weiter. Eine junge Frau saß in einer Ecke und lachte die ganze Zeit, ohne auch nur ein Geräusch zu machen, ein stummes, grausames Gelächter. Ihr Haar hing strähnig herab, und sie krümmte und schüttelte sich, sodass es eher nach Schmerz aussah als nach Heiterkeit. Einige andere Patienten saßen einfach da, murmelten oder starrten an die Decke. Gemma hielt das alles nicht mehr aus und rannte aus dem Haus, die Treppe hinunter.
Sie lief draußen zu den dunklen Gängen und fand einen, in dem Werkzeug an den Wänden hing und Türme von Autoreifen standen, und verkroch sich ganz hinten, wo es dunkel war und niemand sah, wie sehr sie weinen musste, obwohl sie doch schon elf war und damit fast groß.
Und dann kam der Junge.
Zuerst hörte sie nur ein Pfeifen, drückte sich enger an die Wand und hoffte, er würde sie nicht sehen. Vorsichtig spähte sie um einen Reifenstapel und sah einen schlaksigen Jungen in dicker Jacke, der eine Katze auf dem Arm trug, leise mit ihr sprach und nebenher eine Säge an einen Haken hängte. Er stutzte, sah in die dunkle Ecke, in der Gemma versuchte, sich unsichtbar zu machen. Schließlich schaltete er das Licht ein, eine einzelne Glühlampe, die hinter einem birnenförmigen Gitter an der Wand befestigt war, und kam langsam auf sie zu. Gemma begann wieder zu weinen, sie konnte einfach nicht anders.
Er hockte sich vor sie hin, und Gemma erwartete das übliche Verhör, mit dem Erwachsene meistens ein Gespräch anfingen. Wer bist du, was machst du hier, wo ist deine Mutter, warum weinst du, was willst du. Aber der große Junge sagte gar nichts, sondern sah sie nur an. Irgendwann gab er ihr ein
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