Dark Room
Taschentuch und setzte die Katze ab. Die sprang auf einen Reifenstapel, schnurrte und leckte sich die Pfote.
Schließlich fragte er doch etwas, und damit brachte er Gemma völlig aus dem Konzept. »Sie«, sagte er, »haben Sie das Auto unten vor der Auffahrt geparkt? Das müssen Sie wegfahren. Da ist Halteverbot. Haben Sie das Schild nicht gesehen?« Gemma sah ihn mit runden Augen an.
»Ich kann gar nicht Auto fahren, ich bin ein Kind.« Sie schnaubte in das Taschentuch.
»Sie sind ein Kind«, sagte der Junge, als sei das eine echte Überraschung, dann neigte er höflich den Kopf: »Ich wohne hier, mein Vater ist der Hausmeister.«
Sie gaben sich die Hand.
»Und wie heißen Sie, Kind?«
Gemma schwieg.
»Hier ist es gar nicht so schlecht, wissen Sie. Die Schwestern sind eigentlich alle ganz nett, wenn man sie nicht ärgert und macht, was sie sagen. Im Sommer blüht der ganze Park. Und mittwochs gibt es Milchreis.«
Gemma schwieg. Dann flüsterte sie: »Das Haus ist wie ein Kaninchenbau, so dunkel und riesig.«
Der Junge nickte, dann zog sich ein Lächeln von einem Ohr zum anderen. »Manche Patienten sehen tatsächlich weiße Kaninchen. Die leichteren Fälle sehen nur weiße Mäuse.«
Gemma wollte es nicht, aber musste doch lächeln.
»Wenn Sie nicht heulen, erinnern Sie mich an ein lächelndes Kätzchen. Ich glaube, Sie heißen Grinsekätzchen, kann das sein? Oder Grinsekatze? Sie sind ja schon groß.«
Gemma nickte. Sie gaben sich die Hand. Der Junge schüttelte sie sehr langsam. »Grinsekatze also, freut mich. Bleibt die Frage, wer ich bin. Hm, das hab ich jetzt gerade vergessen.«
Gemma sah auf die Puppe, die sie immer noch an sich drückte, obwohl sie sie nicht mochte. Sie roch ganz leicht nach Alicia. »Püppi«, sagte sie dann.
Der Junge musste so lachen, dass er sich hinterrücks auf den Boden setzte und die Beine ausstreckte. Sein Gelächter hallte durch den Werkstattraum. »Das ist ein toller Name! Damit werd ich glatt hier eingewiesen. Hoffentlich hört das nie jemand.«
Gemma legte einen Zeigefinger vor die Lippen. »Der bleibt unser Geheimnis.«
Püppi hielt an dem Namen fest, auch als er später in die Höhe schoss, sodass er den Kopf einziehen musste, wenn er die Garage betrat. Er und Gemma trafen sich bei ihren Besuchen immer dort, weil ihre Mutter das Klinikpersonal angewiesen hatte, sie nicht zu Alicia zu lassen. Sie selbst besuchte Alicia nur alle paar Monate und verbot Gemma, mit hineinzukommen. Gemma steckte Püppi dann kleine Geschenke für ihre Schwester zu. Zu gern hätte sie ihr Briefe geschrieben, aber Alicia konnte nicht lesen.
»Warum ist Ihre Schwester hier?«, fragte Püppi, als er Gemma aus der Garage führte und sie die Treppe hochbrachte.
»Mutter sagt, sie hat Raupen im Kopf.«
Püppi dachte nach. »Raupen? Meinen Sie vielleicht Grillen?«
»Sie spricht nicht. Sie ist nicht wie wir. Und sie versteht vieles nicht, sagt Mutter. Nur ich weiß, dass sie vieles eben doch versteht.«
Püppi blieb abrupt stehen. »Sie haben die Puppe hinter den Reifen vergessen, Sie werden Ärger kriegen. Ich hol sie schnell.«
Gemma hielt ihn zurück. »Gibst du sie Alicia später? Jemand muss auf sie aufpassen, sie kennt hier ja niemanden.«
Der Junge nahm sie fest bei den Schultern und sah ihr direkt in die Augen. »Ab heute Nachmittag kennt sie mich.«
* * *
Püppis Telefon hatte schon einige Male vibriert, aber er nahm den Anruf nicht an.
»Wieder die Eule?« Gemma tigerte im Zimmer hin und her. Von einer Wand zur anderen. Sie hatten schon Mittag, und noch immer war keine Nachricht aus der Gerichtsmedizin eingetroffen.
Püppi seufzte. »Sie denkt bestimmt, ich bin so ein Arsch, der nach dem Vögeln verschwindet, weil er bekommen hat, was er wollte.«
»Niemand, der dich kennt, würde so von dir denken.«
»Sie kann sich da reinsteigern. Und wenn sie es nicht mehr aushält, zieht sie wieder los und fickt sich irgendwo die Seele aus dem Leib.«
Gemma sah ihn ernst an.
»Sei doch froh, dass sie beim Ficken alles vergessen kann, das ist eine Gabe. Andere mit ihrem Leben wären längst komplett durchgedreht.«
Endlich klingelte es an der Tür, und obwohl sie sofort aufsprang, stockte sie kurz. »Ich wäre froh, wenn ich eine Sekunde vergessen könnte, wer ich bin. Oder was mit Alicia passiert ist.«
11 JUSTITIA
»Püppi? Wo bist du? Ich warte im Baumhaus. Ruf endlich zurück!«
Fiona hörte noch einem Moment dem Rauschen seiner Voicemail nach und stellte ihr Handy in
Weitere Kostenlose Bücher