Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
ihre Großmutter im Besonderen für Idioten hielte. »Ich weiß sowieso nicht, was ich in dieser Familie soll. Ich passe da einfach nicht rein.«
Da haben wir etwas gemeinsam, dachte Marla, aber ihr wurde weh ums Herz. War sie so grausam und gedankenlos gegenüber ihrer eigenen Tochter gewesen?
»Du gibst dir ja alle Mühe, nicht hineinzupassen, statt dich mal ein bisschen anzustrengen. Alle vor dir waren hochbegabte Schüler. Dein Vater hat Stanford besucht und in Harvard sein Examen abgelegt, und deine Mutter hat in Berkeley studiert. Ich selbst war in Vassar, und …«
»Ich weiß, Grandpa war in Yale. Na und? Ich hab nie behauptet, eine Intelligenzbestie zu sein. Und überhaupt, was ist mit Onkel Nick? Hat er nicht das Studium abgebrochen?«
Angespannte Stille folgte. Marla spürte, wie Eugenia die Stacheln aufstellte. »Nick ist seinen eigenen Weg gegangen, aber über ihn wollen wir jetzt nicht reden«, wehrte sie ab. »Komm, es ist Zeit für das Treffen mit deinem Vater …« Eugenia musste das Mädchen wohl aus dem Zimmer gescheucht haben, denn plötzlich war Marla allein. Sie entspannte sich, hörte eine Krankenschwester ins Zimmer kommen, fühlte, wie sie nach ihrem Puls tastete. Ein paar Sekunden später sickerte dieser warme, vertraute Nebel der Geborgenheit in ihre Adern und vertrieb den Schmerz, die Sorge, die Angst …
Sie döste eine Zeitlang … Wie lange, hätte sie nicht sagen können, aber irgendwann hörte sie, wie sich leise knarrend die Tür öffnete und dann mit einem kaum hörbaren, aber nachdrücklichen Klicken wieder geschlossen wurde. Sie erwartete, dass eine Krankenschwester an ihr Bett kam und etwas zu ihr sagte, versuchte, sie zu wecken, oder wenigstens die Kissen aufschüttelte, wieder einmal ihren Puls oder die Temperatur oder den Blutdruck maß, aber dieser Besuch war ungewöhnlich leise. Es war, als würde er oder sie sich an ihr Bett anschleichen.
Oder da war überhaupt niemand im Zimmer.
Vielleicht hatte sie sich getäuscht, oder sie hatte geträumt und sich nur eingebildet, die Tür habe sich geöffnet und jemand sei hereingekommen. Ihr Verstand war so umnebelt. Am besten, sie schlief wieder ein. Aber sie konnte es nicht, und sie glaubte, das Scharren einer Ledersohle auf dem Boden zu hören. Aber … Nein … vielleicht doch nicht … Und dann roch sie es, einen Hauch von Zigarettenqualm und noch etwas … den Geruch nach nassem Wald … erdig, modrig … fehl am Platz und, das spürte sie, böswillig.
Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Angst durchströmte sie. Sie versuchte zu schreien, konnte es aber nicht. Versuchte, die Augen aufzuschlagen, doch alle Bemühungen waren vergebens. Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie war doch sicher an einen Monitor angeschlossen, auf dem man den Herzschlag sehen konnte. Irgendeine Pflegekraft würde jeden Augenblick in ihr Zimmer stürzen. Bitte! Helft mir!
Nichts.
Kein Geräusch.
Ihre Kehle war staubtrocken.
O Gott, was wollte diese Person von ihr?
Warum sagte sie nichts?
Wer war sie? Was wollte sie?
Beinahe geräuschlos wich die Person zurück. Mit einem Klicken öffnete sich die Tür und fiel leise wieder ins Schloss.
Sie war allein.
Und halb wahnsinnig vor Angst.
»Ich weiß, es ist verrückt«, sagte Nick zu Tough Guy und packte ein paar Pullover in seine Campingtasche. Er ging durchs Schlafzimmer ins Bad, kramte sein Rasierzeug unter dem Waschbecken hervor und packte seinen Elektrorasierer und einen Deo-Stift in den Kulturbeutel. Er warf ihn von der Badezimmertür aus in die offene Tasche.
Der Hund lag auf einer geflochtenen Matte am Fußende seines Bettes, den Kopf auf den Pfoten, und verfolgte Nick mit den Augen.
»Ich komme ja zurück«, versprach Nick, als könnte der Hund ihn verstehen. »Schon bald.« Er nahm zwei Jeans aus dem Schrank und verstaute sie in der Tasche. »Ole passt auf dich auf, und das wird dir gefallen, glaub mir. Er hat ein Dobermannweibchen, eine verdammt heiße Lady.«
Tough Guy zeigte keinerlei Interesse.
»Dir wird es an nichts fehlen«, versicherte Nick dem Hund. »Da geht’s dir besser als mir.« Er zog den Reißverschluss der Campingtasche zu und sah sich flüchtig um. Diese Hütte mit ihren vier mit Kiefernholz vertäfelten Zimmern war für ihn mehr als nur ein Zuhause; sie war seine Zuflucht, der Ort, an dem er nach der erbarmungslosen Hetze Frieden gefunden hatte. Irgendwann zwischen der Pubertät und der Gegenwart war es ihm gelungen, seinen Komplex
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