Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
ihr viel zu warm war, aber es war das hübscheste von allen. Sie nahm am Gottesdienst teil, saß in einer Bank nur ein paar Reihen hinter der Familie. Da hatte Marla sie gesehen; für einen kurzen Augenblick waren sich ihre Blicke begegnet. Marla war älter, doch ihr Haar war vom gleichen Rotbraun wie Kylies, ihre Nase genauso gerade, das Kinn ein wenig spitzer, das Grün der Augen identisch. Es war unheimlich, als würde sie in einen Spiegel blicken, der ihr Bild nicht ganz korrekt wiedergab. Victoria Amhurst drehte sich um, als hätte sie den Einbruch in ihr perfektes Leben gespürt, sah Kylie, flüsterte ihrem Mann etwas zu und blickte dann rasch wieder in Richtung Altar. Mit stocksteifem Rücken saß sie da und blickte nicht einziges Mal mehr über die Schulter zurück, als die Orgel einsetzte und die Gemeinde das erste Lied anstimmte. Sie stieß ihre Tochter an, und Marla verstand den Wink und sah sich nicht mehr um. Doch sie wusste, dass Kylie da war, sie anstarrte, und Kylie spürte die Faszination, die Neugier des Mädchens.
Nach dem Gottesdienst ging sie vor der Kirche kühn auf die Familie zu, als diese mit dem Geistlichen redete. Conrads Blick ging Kylie durch und durch. Er wurde rot im Gesicht, entschuldigte sich hastig bei dem Geistlichen und packte mit einem Lächeln, das eher einer Grimasse glich, Kylie so fest am Ellenbogen, dass es weh tat. Er führte sie fort von seiner Familie, ein paar Treppenstufen hinunter zu einem abgelegenen Ort, wo Kirschblüten den Boden bedeckten und die Bäume erstes Grün zeigten. Dort fiel er über sie her. Eine leichte Brise spielte mit dem Saum von Kylies Kleid aus zweiter Hand und fuhr Conrad ins ergrauende Haar. Erste Regentropfen fielen vom bewölkten Himmel.
»Ich bin der Meinung, du solltest lieber gehen«, flüsterte Conrad wütend, in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Sein Gesicht war gerötet, die Lippen jedoch wirkten blutleer. »Und du solltest diese Kirche nie wieder betreten.«
»Wir leben in einem freien Land«, konterte sie.
Die harten Finger gruben sich noch tiefer in ihren Arm. »Aber manche Menschen sind freier als andere. Diese Lektion solltest du lieber schnellstens lernen.«
»Ich will nur …«
»Du bekommst gar nichts. Ich habe für dich bezahlt, und zwar teuer. Geh jetzt, oder ich mache dir das Leben zur Hölle.«
»Das haben Sie längst getan«, flüsterte sie.
»Da irrst du dich allerdings. Wenn du glaubst, dass es dir im Moment schlechtgeht, dann warte nur ab. Und merke dir eines: Wenn du mich verärgerst, wirst du es für den Rest deines Lebens bereuen. Und jetzt …« Er griff in seine Tasche und zückte sein Portemonnaie, dem er fünf Hundertdollarnoten entnahm. »Nimm das und kauf dir etwas Hübsches und sprich mich oder meine Familie nie, hörst du, niemals wieder an. Ich lasse mich nicht zwingen oder erpressen oder kompromittieren.« Er drückte ihr die knisternden Scheine in die Hand, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte über den Kirchhof, ohne die rosa Blüten zu beachten, die auf die Schultern seines flotten grauen Anzugs rieselten, ohne zu ahnen, dass Kylie niemals aufgeben würde.
Die Zurückweisung schnürte ihr die Kehle zu, doch Kylie hielt das Geld fest in der Faust. Sie erwog, ihm nachzulaufen, eine Szene zu machen und Conrad das Geld vor die Füße zu werfen. Doch sie hielt sich zurück. Damit würde sie nichts erreichen.
Um zu bekommen, was sie wollte, entschied sie, musste sie hinterrücks vorgehen.
Und das hatte sie getan.
Jetzt fiel eine Erinnerung nach der anderen über sie her, schmerzliche Einblicke in ihr Leben standen scheußlich, klar und deutlich vor ihrem inneren Auge. Als Heranwachsende hatte sie sich betrogen gefühlt. Und verbittert. Der Hass auf Marla Cahill, Papas kleinen Liebling, hatte in ihrer Brust gelodert. Nach der Konfrontation vor der Kirche hatte Kylie Marla von weitem gesehen und gespürt, dass das Mädchen, das ihr so ähnlich sah, genauso neugierig auf ihre Halbschwester war wie sie selbst. Marla bereiste die ganze Welt, lernte in der Bucht von San Francisco Segeln, ging tanzen, shoppen in New York und Paris, verbrachte die Weihnachtsferien in Acapulco, auf den Bahamas oder in Aspen. Sie fuhr ihren eigenen BMW und besuchte ein renommiertes Privatcollege, dem ihr Vater eine Bibliothek gestiftet hatte.
Kylie erhielt abgelegte Kleider und eisige Blicke. Doch einmal hatte sie sich immerhin ein bisschen gerächt, indem sie, da sie ihrer Halbschwester ja so ähnlich war,
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