Dark Swan: Schattenkind (German Edition)
verbracht. Keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich da plötzlich rausgerissen würde.«
»Hast du vor, für den Rest deines Lebens hierzubleiben?«
»Ja«, sagte er ohne Zögern. »Ich liebe es auf dem Land. Ich liebe mein Haus. Ich liebe sogar meine Schüler. Man hört immer, dass die Lehrer heilfroh sind am letzten Schultag, aber ich? Mir fehlen die Kinder dann die ganze Zeit. Ich kann es gar nicht erwarten, dass es wieder losgeht.«
»Unterrichtest du jedes Schuljahr dasselbe?«
»So ziemlich.«
»Und das wird nicht langweilig?«
»Nein. Ich liebe den Stoff. Und es durchlaufen ihn ja immer wieder neue Kinder, also ist er für sie jedes Mal neu. Es macht Spaß, das mitzuerleben.«
Ich schüttelte staunend den Kopf. »Das ist irgendwie nicht zu fassen.«
»Was, dass ich Kinder mag?«
Ich lachte. »Nein, nein. Dass du so zufrieden mit deinem Leben bist. Ich glaube, das ist nicht gerade weitverbreitet.«
Er zuckte mit den Achseln. »Wenn man alles hat, was man braucht, warum es dann komplizierter machen? Ich meine, klar, ich möchte irgendwann eine Familie haben, aber davon abgesehen gibt es jede Menge Gutes in meinem Leben. Die Leute versteifen sich viel zu sehr darauf, was sie alles nicht haben, und lassen sich als Ergebnis davon runterziehen. Die Freude liegt aber in der Gegenwart. Es ist wichtig, dass wir einfach das Beste aus den Momenten machen, die wir haben. Behalten wir die Zukunft im Auge, aber genießen wir das Jetzt .«
Er sah mir kurz in die Augen und wandte sich dann wieder der Straße zu. Evan hatte nie irgendwelche romantischen Annäherungsversuche mir gegenüber gemacht und sich stets wie ein Gentleman verhalten. Was mir recht war. Ich mochte ihn sehr, aber nach allem, was ich durchgemacht hatte, war ich definitiv noch nicht so weit, mich auf eine neue Beziehung einzulassen. Trotzdem hatte ich seit einer Weile das Gefühl, dass er nichts dagegen hätte, wenn sich zwischen uns ein bisschen mehr entwickelte. Wie seine Worte eben bestätigten, hatte ich aber auch den Eindruck, dass er mehr als bereit war, sich zu gedulden. Er war wirklich mit dem zufrieden, was wir gerade hatten.
Und genau das war das Bemerkenswerte an ihm. Er war zufrieden, einverstanden mit dem, was er hatte. Er war in keiner Weise ein Nichtstuer, aber er hatte auch nichts von dem flammenden Gestaltungswillen an sich, den Dorian und Kiyo viel zu oft an den Tag legten. Bei ihm gab es keine ehrgeizigen, weltumspannenden Pläne, nur eine einfache Liebe zum Leben. Mit Evan war alles unkompliziert, und mir kam der Gedanke, dass das vielleicht gar nicht so schlecht war. Mein Alltag war schon so lange von Kompliziertheit geprägt gewesen, dass ich nie viele Gedanken darauf verwendet hatte, ohne sie zu leben. Wäre es denn so schlimm, die politischen Intrigen und die Prophezeiungen der Anderswelt hinter mir zu lassen? Vielleicht tat es mir – und meinen Kindern – ja gut, bei Leuten zu leben, die einfach bedingungslos liebten.
Darauf ließ sich nicht leicht eine Antwort finden, jedenfalls ganz bestimmt nicht gleich heute. Wenig später kamen wir bei der Plantage an, und sie war so beeindruckend, wie Evan gesagt hatte. Das Hauptgebäude war im neogriechischen Stil erbaut worden, weitläufig und prächtig, mit einer Veranda, die sogar Säulen aufwies. Evan stellte den Wagen auf einem Schotterparkplatz ab und führte uns dann zu einem der Nebengebäude, das offensichtlich zu einem Besucherzentrum umgebaut worden war. Während wir darauf zugingen, blieb ich stehen und warf verblüfft einen Blick nach oben.
»Jetzt wird es also doch noch regnen«, sagte ich.
Evan blieb ebenfalls stehen und sah nach oben. »Ich habe nichts dergleichen gehört. Schau – es ist nicht eine Wolke am Himmel.«
Es stimmte. Über uns war nichts als blauer Himmel, von dem eine gnadenlose Sonne herunterbrannte. Trotzdem war ich mir hundertprozentig sicher, dass noch vor Tagesende ein Gewitter kommen würde. Ich konnte es mit jeder Faser meines Seins spüren. Die Luft summte davon. Mir fiel Ohio wieder ein, und ich bekam kurz Panik, dass dieses unerwartete Gewitter vielleicht magische Ursachen hatte. Ich holte tief Luft und spürte seiner wahren Natur nach. Nein, das hier war echt. Ein natürlicher und dringend benötigter Wetterumschwung.
»Wart’s nur ab«, versprach ich Evan, während wir weitergingen. »Du wirst schon sehen.«
Er bedachte mich mit einem nachsichtigen Lächeln, das keinen Hehl aus der Tatsache machte, dass er mir nicht
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