Dark Swan: Schattenkind (German Edition)
glaubte.
Ein Schild am Besucherzentrum besagte, dass die Plantage heute geschlossen war, sodass ich schon dachte, dass wir umsonst hergefahren waren. Evan ging unbeeindruckt weiter und klopfte an die Tür.
»Wanda?«, rief er. »Bist du da?«
Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür, und eine winzige grauhaarige Frau schaute heraus. »Na, so was, Evan. Ich dachte schon, du kommst gar nicht.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich komme.« Er umarmte sie kurz. »Wanda, das ist Eugenie. Sie wohnt im Moment bei Tante Candy und Onkel Chuck. Eugenie, Wanda.«
Wanda schob ihre silbergerahmte Brille höher auf die Nase und strahlte mich an. »Kommen Sie nur herein, meine Liebe. Das Haus steht Ihnen offen, wenn Sie sich umsehen möchten. Evan, du kennst den Weg ja.«
»Na und ob«, sagte er. »Danke, dass du uns reinlässt. Wir bringen auch nichts durcheinander, versprochen.«
»Das wäre ja noch schöner«, neckte sie ihn.
Während wir zum Haupthaus gingen, bedachte ich ihn mit einem erstaunten Blick. »Kennst du eigentlich jeden hier?« Solche Begrüßungen kannte ich schon von unseren gemeinsamen Ausflügen, aber dass er auch freien Zugang zu einer Anlage wie dieser bekam, verblüffte mich dann doch.
Er lachte und hielt mir die Eingangstür auf. »Das ist einer der Vorteile, wenn man so lange an einem Ort wohnen bleibt. Man lernt die Leute nicht nur kennen – man gehört dann praktisch mit zur Familie.«
Wir verbrachten fast zwei Stunden mit einem Rundgang durch das Haus. Es war riesig, ein Raum nach dem anderen, alle restauriert und mit zeitgenössischen Möbeln eingerichtet. Fast alles war mit kleinen erklärenden Schildern versehen, die mein Gehirn mit mehr historischen Fakten überfluteten, als es aufnehmen konnte. Die finstere Seite der Plantage und die Geschichte der Sklaverei bedrückten mich immer noch, aber ich musste Evan recht geben: Es war wichtig, die Vergangenheit zu kennen.
Als wir uns endlich alles angesehen hatten, was es anzusehen gab, kehrten wir in einen der Salons zurück. Ich ruhte mich auf einer kleinen Bank aus und bewunderte den Raum. Angesichts der prächtigen Details und üppigen Stoffe kam ich zwangsläufig auf den Gedanken, dass sich dieser Raum nahtlos in einen Palast der Feinen eingefügt hätte.
Evan betrachtete mich mit Sorge. »Bist du noch fit genug für die Nebengebäude? Wir können auch Schluss machen, wenn du erschöpft bist.«
Die Wahrheit war, ich war wirklich erschöpft. Ich sagte mir nachdrücklich, dass das nur an der Faktenflut und der bedrückenden Geschichte lag – und mich keinesfalls meine Schwangerschaft müde machte. »Werfen wir wenigstens noch kurz einen Blick hinein«, sagte ich und weigerte mich, einen Anflug von Schwäche zu zeigen. »Alles andere wäre ein Jammer, wo wir doch extra so weit gefahren sind.«
»Gut.« Er hielt mir eine Hand hin, um mir aufzuhelfen, und ich ergriff sie. Als wir zur Tür gingen, traf mich ein kalter Schwall – und der stammte nicht aus der Klimaanlage des Haupthauses. Tatsächlich war es genau so eine kalte Stelle, wie ich sie neulich diesem Klienten am Telefon zu erklären versucht hatte.
»Hast du das gespürt?«, fragte ich und blieb stehen.
Evan sah mich neugierig an. »Nein. Was denn?«
»Die kalte Stelle.« Noch während ich das sagte, wanderte die Stelle weiter, und ich stand wieder in der eigentlichen Raumtemperatur. Ich sah mich um, suchte nach einem Hinweis auf den Ursprung der Veränderung. Evan folgte meinem Blick. Selbst mit seinem begrenzten Wissen begriff er die Tragweite einer kalten Stelle.
»Dort«, sagte er leise und zeigte in eine Ecke.
Ich hätte es fast übersehen. In einer mit einem Seil abgetrennten Nische voller Möbeln stand zwischen einer Uhr und einem Sofa ein Gespenst. Es war ein Mann, so bewegungslos und vom Sonnenlicht durchsichtig, dass man ihn kaum sah. Er hatte einen Backenbart und trug einen altmodischen Anzug mit Fliege. Er beobachtete uns wachsam, machte aber nichts.
»Das ist ein alter Geist, der Kleidung nach zu urteilen«, sagte ich. »Der ist wahrscheinlich schon hier, seit das Haus gebaut wurde. Wenn ja, dann stellt er wahrscheinlich normalerweise nichts an – sonst hätte längst jemand Candace gerufen.«
Evan bewegte sich unbehaglich und runzelte leicht die Stirn. »Sehe ich auch so. Spielt aber keine Rolle. Sie würde immer noch sagen, dass er längst hätte verbannt werden müssen. Ist nicht richtig für ihn, an diese Welt gebunden zu sein.«
»Stimmt auch wieder.
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