Dark Swan: Schattenkind (German Edition)
Sorona-Wüste absetzte. Zusätzlich zu meiner Daunenjacke trug ich noch einen Rolli, ein Sweatshirt, kniehohe Stiefel, Handschuhe, Schal und Strickmütze. Roland war auch entsprechend eingepackt. Es war noch total früh, aber die Temperaturen stiegen bereits. Zum Glück waren noch keine Wanderer unterwegs, die das Spektakel, das wir boten, sehen konnten.
Ich saß auf dem Beifahrersitz, und bevor ich aussteigen konnte, nahm meine Mutter meine Hand. »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Und bleib diesmal nicht so lange weg.«
»Bestimmt nicht«, sagte ich und hoffte, Wort halten zu können. Ich drückte ihr ein letztes Mal die Hand, und draußen sprang mich sofort die Morgenhitze an. Ich kam mir vor wie in einer Backröhre und verzog das Gesicht. »Dann mal los.«
Roland nickte und übernahm die Führung zum Tor. Für die Nichteingeweihten sah es auch nicht anders aus als jeder andere Flecken Wüste hier. Nur wussten wir, auf welche Anzeichen es zu achten galt; wir konnten die Kraft des Tores sogar spüren. Es war ein mittelstarkes, was bedeutete, dass seine Durchquerung uns nicht allzu viel abverlangte – genau die Sorte Tor, in die herumstreunende Menschen an Hochfesten aus Versehen hineingeraten konnten. Roland sah mich ein letztes Mal fragend an.
»Dein Entschluss steht fest?«
»Klar«, sagte ich, obwohl von Entschlossenheit keine Rede sein konnte.
Wir traten hindurch, und ich hatte wieder einmal dieses beunruhigende Gefühl, lang gezogen, auseinandergerissen und wieder zusammengesetzt zu werden. Dass ich wusste, was mich erwartete, half ein bisschen, und binnen Augenblicken hatte ich mich wieder gefasst – genau in demselben Moment, als mich eine Windböe beinahe umwarf. Ich hielt mich an der erstbesten Sache fest, die ich zu greifen bekam – Roland, wie sich herausstellte. Er stützte mich, während ich mein Gleichgewicht wiederfand und mich fassungslos umsah.
Weiß, so weit das Auge reichte. Wir standen auf einer der Hauptstraßen, die durch die Anderswelt führten. Sie war von einer Schneeschicht bedeckt, die Räder, Hufe und Füße anscheinend schon etwas flachgedrückt hatten. Ich fragte mich, ob die Straße vielleicht auch durch Magie einigermaßen freigehalten wurde, denn auf ihren beiden Seiten türmten sich Verwehungen bis fast auf Taillenhöhe auf. Die Bäume waren von Eis und Schnee überzogen. Ihre zarte, spitzenartige Erscheinung hatte fast etwas Schönes – aber zugleich auch etwas Leidendes und Trostloses. Die Bäume waren gefangen und kämpften um ihr Überleben.
Da praktisch alles von Eis und Schnee bedeckt war, fiel es schwer, in der Landschaft etwas zu erkennen. Selbst der Himmel mit seinen weißgrauen Wolkenschleiern war eintönig. Wir konnten buchstäblich irgendwo sein. Das Weiß verschleierte die eindeutigen Merkmale, an denen sich die Reiche normalerweise leicht voneinander unterscheiden ließen; bloß war ich gar nicht darauf angewiesen. Ich wusste genau, wo wir waren.
Im Vogelbeerland.
Meine Augen konnten es nicht bestätigen, aber im Herzen wusste ich es. Ich sank auf die Knie und legte die Handflächen flach auf den Boden. Da war es, das Summen der Energie, die im Boden jedes Königreichs sang, die Energie, aus der die Bindung zwischen uns bestand. Das Land schrie nach mir, schrie um Hilfe … und zugleich kam mir sein Rufen gedämpft vor. Als ob jemand gegen eine Scheibe schlug, die Barriere aber nicht durchbrechen konnte. Ich schaffte es auch nicht und verstand jetzt besser denn je, warum ich in der Menschenwelt nichts vom Elend des Landes mitbekommen hatte. Das Land war nicht in der Lage gewesen, vollständig zu mir durchzudringen.
Roland berührte mich an der Schulter. »Komm, Eugenie. Wir sollten hier nicht länger bleiben als unbedingt nötig.«
Damit hatte er natürlich recht; zögernd kam ich wieder auf die Füße und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich am ganzen Leib zitterte. Wahrscheinlich ebenso sehr vom Schock wie von der Kälte.
»Damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte ich und folgte ihm die Straße hinunter. »Ich meine, von der Optik her schon. Jedes Mal, wenn du die Plage beschrieben hast, hatte ich wieder diese Doku vor Augen, die ich mal über die Antarktis gesehen habe. Hier sieht’s ziemlich genauso aus, bloß die Pinguine fehlen. Aber ich hab nicht damit gerechnet, dass sich das Land so anfühlt. Diese Kälte oder besser der Zauber, der sie verursacht, reicht ganz hinunter bis zum Kern des Landes. Ich hab immer gedacht, dass nur ich bis
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