Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
„Hi.“
Charlene war Anfang zwanzig, Vilde wusste nicht, wie alt genau. Sie war groß und schlank und blond und hatte einen IQ, mit dem sie es ohne Probleme mit jedem Hochbegabten aufgenommen hätte. Es war ein Rätsel, warum sie eigentlich als Au-Pair-Mädchen nach Norwegen gekommen war. Und warum sie in all der Zeit kaum ein Wort Norwegisch gelernt hatte.
„How are you, honey?“ Charlene streckte die Hand aus und strich Vilde über die Wange. „You sure you’re ok?“
„Ja.“
Vilde ging zurück zum Bett und setzte sich auf die Kante. Sie beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.
„Was ist?“, fragte sie.
„If you want to talk …“ Charlene blieb in der Mitte des Raums stehen.
Sie machte keine Anstalten, Vilde noch einmal zu berühren.
Sie weiß es, dachte Vilde. Sie fasst mich nicht mehr an, weil sie weiß, wie ich bin und was ich denke .
„Just wanted you to know“, sagte Charlene. „I’m here, if you need someone. I mean, to be with you, we don’t have to talk or anything.“
„Ja.“ Vilde schaute auf ihre Zehen. „Schön. Danke.“
Charlene lächelte sie aufmunternd an. „So … How are you doing?“
„Ich weiß nicht. Not good.“
„Do you want company?“
„Nein. Later. Maybe later.“
„Okay.“ Charlene machte zwei Schritte rückwärts und legte die Hand auf die Türklinke. „Anything I can get you? Hungry or something?“
Vilde schüttelte den Kopf.
„Okay“, wiederholte Charlene. „See you later, then.“
„Ja.“
Charlene verließ das Zimmer. Vilde wartete, bis sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, dann atmete sie mit einem langen Seufzer aus, ließ sich seitlich aufs Bett fallen und zog die Beine an.
Sie glaubte nicht, dass Charlene mitbekommen hatte, wie schlecht es ihr ging. Sie konnte ganz gut vor anderen verbergen, wie es in ihrem Inneren aussah. Alle wussten, dass sie trauerte. Aber nur Benedicte und Nora wussten, dass Trine mehr als eine gute Freundin gewesen war. Keiner konnte ahnen, wie nahe ihr Trines Tod ging.
Vilde schloss die Augen und wünschte, sie könnte eine Ewigkeit schlafen, schlafen, schlafen, tief und traumlos.
Oh, nein. Keiner konnte ahnen, wie nahe ihr Trines Tod ging.
Niemand konnte in ihr Herz schauen und sehen, wie kalt und fremd es dort drinnen war. Sie wussten nicht, dass sie Glasscherben atmete, dass jeder Atemzug schmerzte und all das Gewöhnliche um sie herum, der Alltag und die Menschen, sich anfühlten wie Stacheldraht, der ihr bei jeder Bewegung in die Haut schnitt.
Sie war dem Schmerz hilflos ausgliefert. Erst hatte sie ihn gehasst, Angst davor gehabt, aber das hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Er verschwand ja doch nicht.
Sie kniff sich vorsichtig in den Arm. Mit den Fingerspitzen.
Dann, kurz danach, noch einmal fest, mit den Nägeln. Es war eine Erleichterung. Ein paar Sekunden lang spürte sie einen Schmerz, wie sie ihn schon tausend Mal gefühlt hatte. Fast freute sie sich. Es war ein seltsamer Moment, heller und leichter. Bestimmt gibt es eine Möglichkeit, mit so viel Schmerz im Körper zu funktionieren, dachte sie. Garantiert. Und wenn sie rausfände wie, könnte sie weiterleben.
5
Charlene schloss die Tür hinter sich und blieb noch einen Moment im Flur stehen. Sie hörte ein leises Knacken, als Vilde sich aufs Bett legte. Dann war alles still.
Gut. Sie muss sich ausruhen.
Leise stieg Charlene die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und ging in die Küche. Es war ruhig im Haus. Vildes Mutter war mit dem Kleinen bei einer Veranstaltung in der Schule. Charlene machte sich zwei Käsebrote und wärmte sie in der Mikrowelle auf. Während sie am Küchentisch saß und aß, wanderten ihre Gedanken wieder zu Vilde.
Es hätte so schön sein können, dachte sie. Es hätte bedeutsam sein und alles verändern können. Wenn sie nur unter anderen Umständen hierhergekommen wäre, viele Jahre früher und mit Hoffnung und Illusionen im Gepäck.
Sie blieb noch lange am Tisch sitzen und starrte aus dem Fenster. Ihr Blick hatte schon längst kein Ziel mehr.
Als Vildes Mutter in der Einfahrt vorfuhr, kam Charlene mit einem Ruck zurück in die Wirklichkeit. Sie schaute auf die Wanduhr. Schon zehn nach acht. Ihr war kalt und sie fühlte sich steif. Als sie sich streckte, kehrte langsam wieder Leben in ihren Körper.
Trotzdem ist es besser so, dachte sie. Das Leben – alles. Aber ich muss mich gedulden. Ich muss abwarten und ich muss vorsichtig sein.
6
Sie saßen dicht
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