Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
setzte sich an den Tisch. Gedankenverloren rührte sie mit dem beigefügten Plastiklöffel darin herum. Was sollte sie tun? Was, wenn das Ganze nur Einbildung ist ?
Und wenn schon?
Sie stand auf, stellte den Joghurt weg und fing an, das Haus systematisch zu durchkämmen.
Sie begann ihre Suche im ersten Stock, da ihre Mutter jetzt noch tief schlief. Später würde sie vielleicht aufwachen, wenn Benedicte oben herumlief.
Sie ging von Raum zu Raum und ließ sich viel Zeit. Sie blieb immer wieder stehen und sah sich um, versucht ein Gefühl für das Zimmer zu bekommen und sich an Dinge zu erinnern, die sich dort ereignet hatten. Sie berührte Spiegel und Bücherregale, Decken und Handtücher. Doch die Erinnerung wollte sich nicht einstellen …
Sie hatte eigentlich schon aufgegeben, als sie die Glasvitrine im Wohnzimmer öffnete und ihr Blick auf die alten Fotoalben fiel, die ganz unten lagen. Sie starrte den Stapel an und spürte ein Zucken im Körper – ein plötzlich erwachendes Interesse und eine Art Wiedererkennen. Ein Kribbeln lief ihr über die Haut und sie spürte ihren Atem, die Luft in den Lungen, viel schärfer als sonst.
War es wirklich so einfach? Sie beugte sich hinunter. Waren es die Fotoalben?
Sie nahm eines in die Hand und blätterte es durch … und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ein Foto in dem Album fehlte, beziehungsweise, es war durch ein anderes ersetzt worden. Da war sie sich ganz sicher. Das eigentlich dort eingeklebte Bild zeigte Wolff und ihren Vater Lucas auf irgendeiner Party. Sie saßen an einem Tisch mit vielen Leuten drum herum und hielten die Gläser in die Kamera.
Aber was war so wichtig daran?
Benedicte war enttäuscht. Hatte sie bloß ein normales Foto vergessen? An dem Bild war nichts Auffälliges. Ihr Vater hatte Wolff zu Hause zwar nie erwähnt, aber Benedicte war immer davon ausgegangen, dass sie sich kannten. Jedenfalls flüchtig. Es wäre schon seltsam gewesen, wenn sie sich nicht irgendwann über den Weg gelaufen wären. Benedictes Vater arbeitete für ein Pharmaunternehmen. Er verkaufte Arzneimittel – hauptsächlich Tabletten – an Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken. Bestimmt waren er und Doktor Wolff sich hundert Mal beruflich begegnet.
Und jetzt war das Foto weg.
Seltsam. Ihr Mund stand offen, ihr Hals wurde trocken und ganz eng. In den Schläfen wummerte der Puls. Sie blätterte durch das Album, vor und zurück. Wieso zur Hölle …
5
Genau in dem Moment, als Benedicte vom Sofa aufstand, um das Album an seinen Platz zu legen, griff Vilde nach dem Messer und dachte, dass Sterben auch eine Möglichkeit wäre.
Der Gedanke erschien ihr irgendwie abwegig und ein Teil von ihr protestierte und schrie: Das ist nicht wahr, das kann nicht stimmen! Es ist verrückt! Aber die Worte erreichten sie nicht – obwohl sie unmissverständlich waren. Es kam ihr vor, als stünde jemand auf der anderen Seite eines fast schalldichten Fensters und würde zu ihr rüberrufen.
Es kostete sie keine Überwindung, den Kopf abzuwenden und die Worte zu ignorieren.
In dem großen Hohlraum im Bauch machten sich Schmerzen breit. Am liebsten hätte sie sich auf dem Boden zu einer kleinen Kugel zusammengerollt. Sie wollte nur noch in der Dunkelheit verschwinden, wo nichts hingelangte. Nicht einmal der Schmerz, den sie in sich trug.
Aber das hätte bedeutet, dass sie aufgab. Und das kam nicht infrage. Sie wollte gewinnen. Sie wollte einen Weg finden, um dieses ganze Leid zu kontrollieren. Sie wollte selbst entscheiden, wann etwas wehtat und wie der Schmerz sich anfühlte.
Das Licht im Bad war grell. Ihre Haut war viel blasser, als sie es je an sich gesehen hatte. Sie hatte den Collegepulli ausgezogen und auch den BH. Sie betrachtete sich und dachte: Ich bin nicht hässlich. Das ist es nicht . Vielleicht konnte sie ja eines Tages wieder fröhlich sein, vielleicht sogar glücklich.
Sie leckte sich über die Lippen, umfasste vorsichtig das Messer und berührte mit den Fingerspitzen den Griff . Das Messer war leicht und handlich. Vilde stieg in die Badewanne und setzte sich mit den Beinen nach innen auf den Rand. Sie beugte sich vor und hielt die Hand so, dass es richtig tropfen konnte.
Dann umfasste sie entschlossen den Griff, machte kurz die Augen zu und wieder auf.
Sie wusste, dass sie sich beeilen musste.
6
Benedictes Vater Lucas begann, seine Vorkehrungen noch am selben Abend zu treffen, an dem Wolff in die Falle gelockt worden war – an jenem Abend, an dem die
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