Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
hätte es tun, es wenigstens versuchen sollen. Er hätte ihren Namen rufen und um Entschuldigung bitten sollen. Aber er tat nichts dergleichen.
Er blieb auf der Bank sitzen, bis es kalt wurde. Er fror und zog die Jacke fester um sich.
Als er endlich von der Bank aufstand, war er ganz steif. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke, starrte in die Dämmerung und sah zu, wie zwischen den Hecken die Schatten wuchsen. Irgendwann verlor sein Blick das Ziel, und es kam ihm vor, als stünde sie vor ihm, lebendig.
Und er dachte: Warum bist du immer noch hier, Katie? Warum lässt du mich nicht in Frieden? Ich habe es doch nicht mit Absicht gemacht. Ich schwöre, dass es keine Absicht war.
6
Er steht im Dunkeln.
Es riecht muffig und feucht. Er spürt auf der Haut eine Schicht aus Ekel. Die kriechende Wirklichkeit.
Irgendwo tickt eine Uhr. Erst ist es nur ein leises Geräusch, er nimmt es kaum wahr, aber dann wächst das Ticken in seinem Kopf, bis jedes Tick sich anfühlt wie ein Nadelstich in seinem Gehirn.
Er hält sich mit aller Kraft die Ohren zu, aber es hilft nicht. Das Ticken wird immer lauter. Am liebsten würde er schreien und weglaufen, aber das geht nicht. Er muss dort stehen bleiben, hier in diesem Zimmer. Er muss endlich verstehen, was da vor sich geht. Er muss ihr helfen.
Vor einer Weile hat er gehört, wie sie geholt wurde. Er hörte, wie die Türen auf- und zugingen. Er hörte ihren gemurmelten Protest und wie ihre Finger an der Wand entlangkratzten.
Nicholas folgte ihnen ein paar Minuten später. Er stand vor der Tür und lauschte, aber er hörte nur ein Rascheln und Rumsen, darum schlich er hinter ihnen her in die Dunkelheit.
Jetzt steht er an die Wand gedrückt und wünschte, er wäre unsichtbar. Er versucht, das Ticken auszublenden, und konzentriert sich.
Er weiß, dass sie auf dem Bett liegen, nur zwei Meter von ihm entfernt, aber offenbar sind sie unter der Decke, denn außer dem Stoff, der sich hebt und senkt, sieht er nichts. Die Geräusche klingen gedämpft.
Warum schreit sie nicht? Er begreift das nicht. Es ist so seltsam, dass sie nicht schreit. Dass sie nie schreit!
Plötzlich wird die Decke zur Seite geschleudert und sie kommen zum Vorschein. Zumindest der Pflegevater ist mit einem Mal gut zu erkennen, groß und massig, wie ein schwerer Wal, der die Wasseroberfläche durchbricht.
Er liegt auf ihrem Rücken. Er packt Katies Haare und zieht ihren Kopf nach hinten. Nicholas sieht, dass sie weint. Ihr Gesicht ist rot und verzerrt, der Mund in einem tonlosen Schrei erstarrt. Ihre Augen sind fest zusammengekniffen. Die Augenwinkel zucken und ihre Wangen sind tränennass.
Dann öffnet sie die Augen und entdeckt ihn. Angst und Schmerz liegen in ihrem Blick und etwas Hartes, das er noch nie gesehen hat. Lautlos formt ihr Mund Worte. Ihr Körper schaukelt. Die Geräusche werden lauter, schwer und dumpf.
Geh weg , sagt ihr Mund tonlos. Und sie hebt einen Arm von der Matratze und gestikuliert: Weg, weg . Dann drückt das Gewicht ihres Pflegevaters sie nach unten.
Nicholas fühlt sich klein und unbedeutend. Sie will seine Hilfe nicht. Sie glaubt nicht, dass er sie retten kann.
Seitwärts schiebt er sich zur Tür, öffnet sie und gleitet hinaus. Ein Lichtstreifen fällt auf den Boden. Er spürt, dass der Pflegevater den Kopf hebt. Nicholas macht die Tür zu.
„Was zur Hölle …“, hört er ihn hinter sich und dann erklingt in schnellem Stakkato Katies Stimme.
Nicholas rennt in sein Zimmer. Er kann es nicht abschließen, es gibt keinen Schlüssel, und so liegt er fast die ganze Nacht wach, starr vor Angst, dass der Pflegevater hereinkommt. Aber nichts passiert. Auf dem Flur sind keine Schritte zu hören. Katie bleibt bis zum Morgen im Zimmer des Pflegevaters.
Nach dieser Nacht tut der Pflegevater es nicht mehr im Haus, jedenfalls nicht so, dass Nicholas es bemerkt. Aber das macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Jetzt zwingt er sie, ins Stauwerk kommen.
Mittwoch/Alle
Something’s wrong,
Shut the light,
Heavy thoughts tonight.
Enter Sandman , Metallica
1
Am nächsten Tag ging alles von Anfang an schief. Erst weigerte sich Nora aufzustehen, vom Bett aus schniefte sie, dass sie krank sei und nicht zur Schule gehen könne. Lena Kristine Sigvardsen Moe war spät dran und blieb unentschlossen auf der Türschwelle stehen.
„Bist du sehr krank?“, fragte sie.
„Ja. Ein bisschen“, murmelte Nora unter der Decke hervor.
„Brauchst du
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