Darkover 06 - Die Flamme von Hali
Harald neigte den Kopf. »Es heißt, bloß ist der bruderlose Rücken . In diesen gefährlichen Zeiten müssen wir alle, Schwestern und Brüder, zusammenstehen.«
Dyannis nickte. Sie überlegte bereits, was sie brauchte. »Hast du einen Vorrat an Kirian , vielleicht im Lager bei den anderen Arzneien?«
»Das bezweifle ich«, antwortete Harald und kratzte sich am Kopf. »Das heißt, wenn es nicht noch Reste aus deiner Zeit gibt. Seit du gegangen bist, haben wir keines mehr benötigt.«
Außerhalb eines Turms gab es wenig Bedarf an dem psychoaktiven Destillat, nur für die Behandlung der Schwellenkrankheit. Dyannis kannte ein Dutzend weiterer Verwendungszwecke, aber einzig für Funktionsstörungen, die mit Laran zusammenhingen.
Sie setzte sich wieder und trommelte mit den Fingern auf die hölzerne Stuhllehne. »Wenn es all diese Jahre nicht mit Wachs versiegelt und unangetastet geblieben ist, hat es ohnehin seine Potenz verloren. Ich sollte besser neues machen.« Sie blickte kurz zum Fenster hinaus, wo der Wind Wolken über den Himmel trieb. Ihr Körper erinnerte sich an den Rhythmus der hiesigen Jahreszeiten; der Frühling hatte gerade erst begonnen, auf den Höhen lag nach wie vor Schnee, und es würden weitere Stürme aufziehen.
»Es wird noch gut einen Monat dauern, denke ich, bis ich Kireseth ernten kann«, meinte sie.
Harald warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Sieh mich nicht so an«, sagte Dyannis leichthin. »Ich mache das nicht zum ersten Mal. In Hali lernt jeder die Herstellung von etwas so Wichtigem wie Kirian .«
»Ich zweifle nicht an deiner Kompetenz«, sagte er. »Als Leronis ist es deine Pflicht, so etwas zu können. Aber es gibt im Umkreis von einem Tagesritt kein Kireseth . Du wirst hoch in die Berge gehen müssen, und das ist zu gefährlich.«
»Harald, ich bin eine Ridenow. Ich habe reiten gelernt, bevor ich gehen konnte, genau wie du.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber du hast nicht gelernt, wie man ein Schwert führt. Asturias wird mit jeder Jahreszeit, die vergeht, streitlustiger, und in den Ländern zwischen uns wimmelt es von vertriebenen und gesetzlosen Menschen. Bisher haben sie Sweetwater in Frieden gelassen, aber gegen Ende des Winters mag das vorbei sein. Als Oberhaupt dieser Familie bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich. Ich kann nur zulassen, dass du so weit reitest, wenn du einen bewaffneten Geleitschutz hast.«
»Das halte ich nicht für klug«, sagte Dyannis. Die Pollen der glockenförmigen Blüten konnten bei Mensch und Tier gefährliche, unvorhersehbare Halluzinationen hervorrufen. »Ich bin im Umgang mit Kireseth -Pollen geschult, aber ich will nicht die Verantwortung für andere übernehmen. Schwerter können normale Menschen nicht schützen, wenn sie ungewollt den Pollen ausgesetzt sind.«
Sie wollte keinen Streit provozieren, in dem Lerrys der eigentliche Verlierer sein würde. Harald dachte nur an ihr Wohlergehen, als Bruder und Herr von Sweetwater. Sie ermahnte sich, dass alle Männer hier sich mit den Gefahren der Natur auskannten. Manche hatten vielleicht auch schon einen Geisterwind überstanden, die jahreszeitliche Freisetzung von Kireseth -Pollen.
»Ich werde deine diesbezüglichen Wünsche respektieren«, sagte sie, »solange ich mich bei den anderen Risiken auf mein eigenes Urteil verlassen kann.«
Harald willigte ein, obwohl es ihm sichtlich nicht behagte, dass sie sich so weit vom Hauptgebäude entfernen wollte. Bald darauf brach Dyannis auf. Sie wusste, dass sie zufrieden sein konnte, denn sein Zugeständnis war größer gewesen, als sie erwartet hatte, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte.
Als der Frühling sich ernsthaft des Landes bemächtigte, wurden die Tage länger, die Luft wurde milder, und der Duft der knospenden Bäume und feuchten Erde nahm zu. Dyannis erwachte, hellwach und ausgeruht, zwei Stunden vor Tagesanbruch. Sie schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf und trat ans Fenster. Der Körper tat ihr weh von der Untätigkeit. Sie war jetzt schon einen ganzen Monat in Sweetwater und hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, den Hof zu verlassen. Ihr Geleitschutz war nach wenigen Tagen Rast nach Thendara zurückgekehrt. Nach dem ersten Überschwang der Begrüßung hatte auf dem Anwesen wieder die tägliche Routine eingesetzt. Rohanne drängte sie wiederholt, sich zu ihr zu setzen und zu nähen, aber Dyannis hatte bisher immer eine gute
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