Darkover 09 - An den Feuern von Hastur
verächtlichen Blick zu Melissa hinüber und wünschte die junge Frau irgendwohin, nur nicht als Anstandsdame an ihrer Seite reitend. Übrigens hätte sie sehr gern auch auf die Gardisten und den Bannerträger verzichtet. Um die Wahrheit zu sagen, am liebsten wäre sie mit Lorill allein geritten. Die Hastur-Zwillinge waren sich immer nahe gewesen, und sie sah keine Gefahr in einer so kurzen gemeinsamen Reise - schließlich war er ihr Zwillingsbruder , er würde ihr doch nichts tun!
Doch sowohl ihr hoher Rang als auch die gegenwärtige Mode im Benehmen ließen es nicht zu, daß junge Ladies in Begleitung ihrer Brüder ohne schickliche Eskorte und Anstandsdamen reisten, mit Gardisten und Entourage. Dem darkovanischen Brauch entsprechend, war Lorill an ihrer beider fünfzehntem Geburtstag offiziell zum Mann erklärt worden, und Leonie wurde jetzt als junge Frau betrachtet, nicht mehr als Kind. Sie war immer noch ein ziemlicher Wildfang und sehr eigensinnig, aber ihr Ruf war makellos.
Ein langer Ritt ohne Anstandsdame hätte ihn merklich schädigen können.
Eine blöde Sitte , dachte sie rebellisch. Wenn Lorill als Schutz nicht genügte, war sie schließlich nicht darüber erhaben, sich selbst zu schützen! Gemessen an anderen Männern, war Lorill von mittlerer Größe, wohingegen Leonie, beinahe ebenso groß wie er, als ungewöhnlich groß für eine Frau galt. Diese Größe allein würde nicht wenige Männer erst einmal nachdenken lassen.
Auch in anderer Beziehung war sie eindrucksvoll. Wie alle Hastur-Frauen und die meisten der Männer hatte sie einen hellen Teint und leuchtendes kupferfarbenes Haar. Im Augenblick lag es als Krone aus Zöpfen über ihrer Stirn. Noch deutlicher als Lorill trug sie den Stempel der Hastur-Sippe. Comyn , das war in jeden Zoll von ihr eingebrannt. Comyn und Hastur - die Kombination sollte sogar den kühnsten Gesetzlosen hindern, sich an sie heranzumachen. Geschah ihr ein Leid, würde die Suche nach den Angreifern gnadenlos und die an ihnen ausgeübte Rache schrecklich sein.
Leonie war außerdem auffallend schön - und sich dessen außerordentlich bewußt - und in den letzten drei Jahren am Hof in vielen Trinksprüchen gefeiert worden. Zwischen den Höflingen und den Männern, die gern um sie geworben hätten, war Leonie ganz der verhätschelte und verwöhnte Liebling ihrer Umgebung gewesen. Der Vater der Zwillinge war einer von König Stefans ersten Ratgebern, und man wußte zu erzählen, daß sogar der verwitwete König Stefan Elhalyn selbst einmal Leonies Hand zur Ehe begehrt hatte. Das hatte sie noch populärer gemacht, wenn das überhaupt möglich war. Sogar Höflinge außerhalb ihrer Altersgruppe suchten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil sie an den Tag dachten, an dem sie Königin sein mochte.
Aber Leonie hatte keine Lust gezeigt zu heiraten. Sie war ganz von einem anderen Ziel erfüllt, und nicht einmal die Aussicht auf eine Krone konnte sie davon ablenken. Denn die Macht einer Königin war auf das beschränkt, was ihr Herr und König ihr gewährte. Leonie wollte sich nicht beschränken lassen. Lorill brauchte es auch nicht, warum also sie? Waren sie nicht Zwillinge, von Geburt an gleich bis auf das Geschlecht?
Von ihrer frühen Mädchenzeit an hatte Leonie einen Platz in einem der Türme haben wollen, wo sie sich ihr ganzes Leben lang dem Beruf einer leronis widmen konnte. Das würde ihr eine Stellung weit über jeder anderen Aristokratin verschaffen, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, und eine Macht, die der Lorills gleichkam.
Und wenn sie ihr heimliches Ziel erreichte und die Bewahrerin des Arilinn-Turms wurde, wäre ihre Macht größer als die ihres Zwillingsbruders, zumindest solange ihr Vater lebte. Denn die Bewahrerin von Arilinn hatte kraft eigenen Rechts einen Sitz im Rat und nahm von keinem Mann außer dem König selbst Befehle an.
Es machte keine Schwierigkeiten, einen Turm zu finden, der sie aufnehmen würde. Wie allgemein bekannt, war Lady Leonie in reichem Maß mit dem Hastur- Laran begabt. Doch jetzt, da dieser Schritt unmittelbar bevorstand, war sich Leonie in aller Deutlichkeit schmerzlich bewußt geworden, daß dieser von ihr selbst gewählte Weg sie von ihrer Familie und allen Lieben trennte, denn sie würde während der Zeit ihrer Ausbildung im Turm isoliert werden. In diesem Augenblick war sie, ganz gleich, was sie einmal werden würde, nichts als ein junges Mädchen, dem der Abschied vom Bruder und
Weitere Kostenlose Bücher