Darkside Park: Mystery-Thriller (German Edition)
Schnee: »Lautes Kälbchen, zart und fein. Wirst gleich noch viel lauter schrei’n …«
In diesem Moment sprang Ti-Kahonn auf und rannte durch den Sturm auf die Stimme zu. Es war so schnell gegangen, dass keiner von uns reagieren konnte. Schockiert horchten wir in das Heulen des Windes hinein. Doch statt wilder Rufe oder Kampfeslärm herrschte absolute Stille.
Dann vernahmen wir höhnisches Lachen. Widerliches, schmatzendes Lachen.
Einige Minuten später begann der Sturm nachzulassen, der Schneefall hörte auf, der Wind flaute ab, und der Blick reichte wieder in die Weite.
Wir wussten sofort, dass es Ti-Kahonns Jacke war, die dort vor uns im Schnee lag, obwohl sie kaum noch als solche zu erkennen war. Sie war über und über mit einer dickflüssigen schwarzen Masse besudelt, die einen abscheulichen Gestank verströmte. In ihrem Inneren klebte ein bemaltes kleines Blatt, dessen strahlendes Weiß uns zu verspotten schien.
Schnee und Eis. Kälte und Wind. Uns voraus ein Mann, der des Tages voranschritt und des nachts im Nirgendwo weilte. Frühling in unseren Träumen. Die Zeit verging.
Wie lange schon waren wir unterwegs? Mir kam es wie Jahre vor.
Eines Vormittags kamen wir an einen breiten Fluss, dessen starke Strömung ein Durchqueren unmöglich erscheinen ließ. Es musste ein sehr tiefer Fluss sein. Das Wasser sah dunkel und bedrohlich aus. Mir war unbegreiflich, auf welche Weise er dies vollbracht hatte, doch Hia-Takee befand sich bereits am anderen Ufer. Ohne Zögern ging er weiter.
»Wir müssen hinterher!«, rief Ni-Katea. »Wenn wir ihn aus den Augen verlieren, war alles umsonst. Einer von uns muss versuchen, ans andere Ufer zu gelangen. Wir werden ihn mit einem Seil sichern. Wenn er die andere Seite erreicht hat, muss er das Ende des Seils an einem der Bäume dort festbinden. Währenddessen werden wir Holz schlagen und ein kleines Floß bauen, mit dem wir dann übersetzen können.«
Se-Temm trat vor. »Ich werde es tun.«
Rasch holte Ni-Katea aus seiner Tasche ein langes Seil hervor und knotete es Se-Temm um den Leib.
In der Zwischenzeit waren Ma-Tu, ich und die anderen bereits dabei, Holz für das Floß zu schlagen. Kurz darauf stieg Se-Temm ins kalte Wasser. Augenblicklich wurde er von der Strömung ein Stück flussabwärts getrieben, doch er kämpfte tapfer und verbissen gegen den Sog an, und schon bald näherte er sich der Mitte des Flusses. Während wir eilig das gefällte Holz mit Seilen aneinanderfügten, ließ ich besorgt meinen Blick den Fluss hinabwandern.
Gerade wollte ich mich wieder der Verknotung eines Querholzes zuwenden, da erblickte ich plötzlich einen Schatten. Einen langen dunklen Schatten, größer als jeder Fisch es sein konnte. Zuerst hatte ich ihn für einen versunkenen Baumstamm auf dem Grund des Flusses gehalten. Doch dann begann er, sich zu bewegen. Der große Schatten schwamm gegen die Strömung den Fluss hinauf, auf Se-Temm zu!
Ohne zu überlegen sprang ich auf, rannte ans Ufer und schrie: »Se-Temm! Schwimm schneller! Da kommt etwas auf dich zu!«
Die anderen blickten auf. Zuerst verwirrt, dann in heller Panik. Sie riefen und schrien, so laut sie konnten. Immer näher kam der Schatten. Auch Se-Temm hatte ihn jetzt entdeckt. In wilder Verzweiflung kämpfte er sich auf das rettende Land zu.
Noch zwanzig Fuß bis zum Ufer.
Der Schatten wurde schneller. An seinem hinteren Ende stiegen wirbelnde Luftblasen zur Wasseroberfläche auf.
Noch fünfzehn Fuß.
Der Schatten schien jetzt höher zu steigen. Die Umrisse wurden schärfer, seine Oberfläche gewann an Helligkeit. Die Farbe erinnerte mich an blankes glitzerndes Eis.
Noch zehn Fuß.
Se-Temm verließen die Kräfte. Er konnte kaum noch der Strömung standhalten, die ihn unbarmherzig auf den Schatten zutrieb.
»Nicht aufgeben! Du schaffst es!«, schrien wir verzweifelt.
Noch fünf Fuß.
Der Schatten war jetzt direkt unter der Wasseroberfläche. An seiner Vorderseite schäumte wilde Gischt auf. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit schnellte der glänzende Schatten auf den Jungen zu und verfehlte ihn.
Mit letzter Kraft hatte sich Se-Temm noch einmal aufgebäumt und ans Ufer geworfen. Der Schatten glitt an ihm vorbei und verschwand im nächsten Moment im Dunkel des Wassers.
Se-Temm war am Ende. Er schaffte es gerade noch, das Seil um eine am Ufer stehende Tanne zu binden, dann fiel er in den Schnee und blieb reglos liegen. So schnell wir konnten, ließen wir das Floß zu Wasser und setzten ans andere Ufer über.
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