Darkyn: Im Bann der Träume (German Edition)
erkennen.
Dann war da noch sein Aussehen. In seinem Zustand konnte er sich nicht offen unter Menschen bewegen, nicht mit seinen schmutzigen, zerrissenen Sachen und dem ungepflegten Haar. Sie würden ihn für einen der Unglücklichen halten, die auf den Straßen und in den Parks lebten, und ihn wegscheuchen oder die Polizei rufen.
Er konnte nicht riskieren, angegriffen zu werden. Nicht, wenn seine Scham über das, was er Jema angetan haben könnte, einen weiteren Anfall von sinnloser, unkontrollierbarer Wut auslöste.
Thierry wusste, wo das Museum war, dank eines Faltblattes, das er sich in einer Touristeninformation in der Stadt besorgt hatte. Schon in Frankreich hatte er das moderne »Informationszeitalter« missbilligt. Seiner Meinung nach war das zu viel. Man baute kein Schloss, nur um dann Pläne zu verteilen, wie es eingenommen werden konnte. Doch das Faltblatt enthielt viele Details, inklusive einer einfachen Straßenkarte, die ihn von der Michigan Avenue durch eine Seitenstraße bis direkt vor die Stufen des Museums leitete. Er parkte in einer Gasse einen Block entfernt und ging zurück.
Bei jedem Schritt sah er sich nach seiner kleinen Katzenfrau um und betete, sie möge nicht Jema Shaw sein.
Wenn man das Faltblatt nicht kannte oder nicht wusste, dass das Shaw-Museum griechische und römische Schätze beherbergte, musste man es sich nur von außen ansehen. Es war eine Miniaturnachbildung des Parthenon in Athen.
Während er in der Gasse gewartet hatte, hatte Thierry Zeit gehabt, die gesamte Broschüre zu lesen, dankbar dafür, dass man ihm während der Jahre im Tempel beigebracht hatte, Englisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Aus den Informationen ging hervor, dass das Shaw-Museum gebaut worden war, um die Artefakte zu beherbergen, die James Shaw während seiner vielen archäologischen Ausgrabungen im Mittelmeerraum gefunden hatte.
James’ Vater hatte beinahe das Gleiche getan wie Lord Elgin, der Bildhauerkunst gesammelt hatte, die später als sein »Marmor« aus Griechenland bekannt geworden waren. Tatsächlich hatte Shaw mehr als zweihundertvierzig Reisen nach Griechenland und in den umliegenden Mittelmeerraum unternommen, um unbekannte Gegenden zu erforschen und das zu sammeln, was die Zeitungen die »in der Zeit verlorenen Schätze« nannten. Nachdem er die Artefakte nach Amerika gebracht hatte, stellte er ein Team von Experten an, um zu restaurieren und zu schützen, was er gefunden hatte. Das Museum war gebaut worden, um die Früchte dieser Bemühungen auszustellen.
Thierry, der Jahrhunderte damit verbracht hatte, die große Kunstsammlung im heimischen Louvre zu bewundern, fand Shaws Bemühungen sehr merkwürdig. Amerikaner waren eigentlich stets nur von sich selbst fasziniert und interessierten sich weit mehr für ihre eigene kurze und rebellische Vergangenheit als für die der übrigen Welt. Warum war Shaw nach Griechenland und Italien gefahren, um sie auszugraben?
Das Museum beherbergte drei Sammlungen von griechischer, römischer und etruskischer Kunst, deren Alter sechstausend Jahre der jeweiligen Völkergeschichte umfasste. Zahlreiche Ausstellungsstücke waren scheinbar ungewöhnliche Statuen, religiöse und rituelle Keramiken und andere Kultobjekte. Das Faltblatt versicherte ihm, dass sämtliche Funde von James Shaw mit mehr Sorgfalt analysiert worden waren als alle anderen in der Geschichte der Ausgrabungen jemals zuvor und dass das Museum jetzt als eine der beeindruckendsten privaten Sammlungen mediterraner Altertümer in der westlichen Hemisphäre galt.
Vielleicht hatte der Mann nach einem Gottesbeweis gesucht, dachte Thierry, während er das Gebäude auskundschaftete. Was immer James Shaw gesucht hatte, er hatte jeden alten Stein dafür umgedreht.
Seine scharfen Augen entdeckten eine zierliche dunkelhaarige Frau, die in den vorderen Teil des Museums kam. Sie war es, seine kleine Katze von gestern Nacht. Sie ging an zwei uniformierten Männern vorbei, die an einer offenen Tür standen. Keiner von beiden achtete auf sie.
Jema Shaw.
Thierry folgte ihren Bewegungen, während sie von einer Seite der Lobby zur anderen ging und Papiere aus verschiedenen Büros holte. Sie lief direkt an einer Frau vorbei, die den Teppich saugte, und umrundete einen jungen Mann, der die Papierkörbe ausleerte. Wie die Wachmänner beachteten beide sie nicht.
Thierry runzelte die Stirn. Diese Leute ignorierten sie nicht. Sie benahmen sich, als würden sie sie gar nicht sehen. Dabei war es ganz
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