Darkyn: Ruf der Schatten (German Edition)
einen Grund zu haben, an etwas anderes zu denken als an seine Schultern und wie gut sein Anzug saß. »Darin steht alles über die Fenster und außerdem ein paar nette Geschichten über den Künstler. Zum Beispiel, dass Tiffany sich auf Fenster für Kirchen und Gedenkstätten spezialisiert hatte, aber dass er lieber Blumen und Landschaften abbildete als Leute oder Symbole. Er fand die Natur viel göttlicher als den Menschen. Außerdem benutzte er in seinen Arbeiten häufig die Blumen als Symbol. Die Mohnblumen und die Passionsblumen in seinen Werken stehen für die Kreuzigung und die Auferstehung Jesu .«
»Was immer seine Absicht war, er hat wunderschöne Kunstwerke geschaffen .« Das künstliche Licht, das durch die Fenster schien, tauchte Jaus’ Gesicht in Rot und Gold. »Obwohl ich annehmen würde, dass Sie das Fenster von der Frau im Garten bevorzugen .«
»Sie hat etwas sehr Geheimnisvolles an sich « , gestand Liling. »Als würde der Künstler wissen, dass sie ein Geheimnis hat. Manchmal denke ich, dass ich herausfinde, was es ist, wenn ich es nur lange genug betrachte .«
Er lächelte nicht, aber er wirkte amüsiert. »Sie müssen es mir erzählen, wenn es Ihnen gelingt .«
Er fragt nie; er befiehlt, dachte Liling. Wie ein General … Oh, sie würde nicht darüber nachdenken, während er direkt neben ihr stand. »Dieses nächste Fenster ist auch sehr hübsch .«
Während sie langsam an den dreizehn Ausstellungsstücken vorbeigingen, erzählte Jaus ihr, dass die Chicagoer Bevölkerung eine besondere Hochachtung vor Glasfenstern hatte.
»Ich glaube, es begann kurz nach dem Großen Brand von 1871, als die Stadt wiederaufgebaut wurde « , berichtete er Liling. »Die Einwanderer, die von der Industrie und der Hoffnung auf Arbeit hergelockt worden waren, fingen an, ihre Kirchen, Geschäfte, Schulen und Häuser mit den bunten Glasfenstern zu schmücken, die sie aus Europa kannten. Viele der alten Gebäude blieben erhalten, deshalb ist Chicago selbst ein riesiges Glasfenster-Museum .«
»Ich kann es nicht fassen « , sagte sie zu ihm. »In meinem Buch steht, dass sogar in einige der alten Eisenbahnwaggons Buntglasfenster eingelassen wurden .« Sie sah ihn neugierig an. »Sie scheinen viel über die Geschichte der Stadt zu wissen. Haben Sie sich damit beschäftigt ?«
Er nickte. »Ich kenne sie so gut, als hätte ich das alles selbst erlebt .«
Ein Sicherheitsbeamter betrat den Raum. »Leute, das Museum schließt jetzt .«
Liling erschrak. Hatte sie tatsächlich eine ganze Stunde lang auf den armen Mann eingeredet? Er musste total gelangweilt sein. »Es war jedenfalls sehr nett, Sie getroffen zu haben, Mr Jaus .«
Er folgte ihr aus dem Museum, aber als sie gehen wollte, hielt er sie am Arm fest. »Es ist schon spät. Gestatten Sie mir, Sie nach Hause zu begleiten .«
Wieder keine Frage, sondern ein Befehl.
»Das ist nicht nötig « , sagte sie und schämte sich erneut über die Aufregung, die sie empfand. »Ich wohne nur ein paar Blocks entfernt .«
Eine Großfamilie, die den Pier verließ, kam an ihnen vorbei und zwang Liling, näher an Jaus zu rücken, um ihnen Platz zu machen. Der Duft von Kamelien hüllte sie ein. Er ließ Wärme in ihr aufsteigen und machte sie ganz schläfrig.
Plötzlich wollte sie nicht mehr nach Hause. »Müssen Sie schon gehen ?«
»Ich kann auch noch mehr Zeit mit Ihnen verbringen « , sagte er, »wenn Sie das möchten .«
Ihr Kopf nickte, während sie sich mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kragenaufschlag festhielt und sich an ihn lehnte, um seinen Duft einzuatmen. »Sie riechen immer nach Ihren Blumen. Warum ?«
»Ich verbringe viel Zeit in meinem Garten .« Seine Stimme hatte sich verändert, er sprach jetzt ein bisschen undeutlich, und seine kristallklaren Augen blickten auf ihren Hals.
»Und warum sind Sie dann so unglücklich ?« , hörte sie sich fragen.
Er zog sich zurück. »Ich weiß nicht, was Sie meinen .«
»Sie können in einem Garten nicht unglücklich sein .« Ihr Kopf klarte wieder auf, und sie zog ihre Hand zurück, entsetzt darüber, dass sie ihn angefasst und wie sie mit ihm gesprochen hatte. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Das geht mich nichts an .«
»Vielleicht ist das das Geheimnis der Frau im Garten « , sagte er und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. »Ich werde Sie nicht länger aufhalten, Miss Harper. Wir sehen uns sicher bald wieder .«
»Auf Wiedersehen, Mr Jaus .« Sie wandte sich um und floh.
Boyce Kinney, der Fotograf
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