Darkyn: Ruf der Schatten (German Edition)
wollte, und bei dieser Aussicht wurde ihr übel. Aber er war kein Priester – er hatte weder einen Käfig noch eine Schere dabei.
War das möglich? War er es? Sie sah ein zweites Mal hin, als er abstieg, und sah, wie das Sonnenlicht sich in seinem goldenen Haar und in seinen schönen blauen Augen spiegelte.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war Valentin.
Liling zog sich vom Fenster zurück und setzte sich, hielt einen Strauß Kamelien in ihren angespannten Fingern und beobachtete, wie die Blütenblätter sich von Rot zu Weiß wandelten. Seine Farbe, wie der Schnee in seiner Stimme und das Eis in seinen Augen. »Er kommt extra aus dem Lighthouse, um mich zu holen « , sagte sie zu den Blumen. Aber warum? Und wohin würde er sie bringen? »Ich werde ganz ruhig sein; ich werde mich im Griff haben .«
Sie hatte sich aber schon so lange im Griff. Sie war so müde.
Bist du sicher, Lili?
Der Geist von Chen Ping lief im Zimmer umher und versuchte vergeblich, über die staubbedeckten Möbel zu wischen und mit dem Besen die Spinnweben aus den Ecken zu holen. Sie scheuchte ein bläuliches Schwanenjunges auf, das auf dem Pianoforte saß und vor Schreck über die Tasten lief. Der wütende Schwan fauchte und breitete seine riesigen Flügel aus. Er hackte nach ihrem Geist, bis Chen Ping ihre Form änderte und zu etwas wurde, das aus Schatten gemacht war und nicht mehr aus Erinnerungen. Sie lächelte Liling ein letztes Mal an.
Wünsch ihm Glück.
Als Valentin den Raum betrat, wirkte er verwirrt, so als wäre er niemals an einem solchen Ort gewesen. Aber Liling hatte ihn hier schon so oft empfangen, dass er jedes einzelne Zimmer, jede Wand und jeden Stein hätte kennen müssen. Wie konnte er sie ansehen, als glaube er, nicht willkommen zu sein – er, der Einzige, den sie jemals hierher eingeladen hatte?
»Das hier ist nicht real .« Ungläubigkeit machte seine samtige Stimme weich. »Du bist sterblich. Du kannst mich nicht rufen .«
»Ich bin genauso überrascht wie erfreut über Euren Besuch, Sir .« Liling ging zu ihm und zwang sich, Haltung zu bewahren und ganz ruhig zu wirken. Sie reichte ihm die Hand. »Ich wünsche Euch nur großes Glück, Mr Jaus .«
»Glück .« Er ergriff ihre Hand und hielt sie viel länger fest, als die Höflichkeit es gebot. »Was weißt du von meinem Glück ?«
Der blaue Schwan schrie laut und flog durch das Zimmer. Er krachte durch die Scheibe und ließ Scherben auf Jaus und Liling regnen, bevor er durch das zerklüftete Loch floh. Blaue, blutbeschmierte Federn sanken langsam zu Boden.
Am Horizont zog ein nachtschwarzer Himmel auf das Cottage zu und brachte feuerrote Wolken voller blauer Blitze mit sich.
Jetzt, wo der Schwan geflohen war, legte sich ein bedrücktes Schweigen über den Raum. Liling beobachtete die Sturmwolken, der über ihrem kleinen Haus aufzog, und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich genoss gerade die trockene Jahreszeit. Es darf jetzt nicht regnen. Bitte, lasst mich los .«
»Nein .« Er legte seine Hand an ihre Kehle. »Wie hast du mich hergebracht, Liling? Du gehörst nicht zu meiner Art. Du kannst nicht hier sein .«
Hinter ihr begann das Feuer zu rauchen.
Nicht zu seiner Art. Das war seine Meinung von ihr. Sie hatte sich nie gestattet, wütend zu sein, hatte sich nie gestattet, das zu empfinden. Das war immer zu gefährlich gewesen, vor allem, nachdem sie entdeckt hatte, zu was sie fähig war.
Du darfst nicht geben , flüsterte Chen Ping. Nur nehmen .
»Euer Verhalten beleidigt mich, Sir « , sagte sie so streng, wie sie konnte. »Ich habe mich Euch hingegeben. Ich glaube, dass es für Euch keine Gefahr darstellen kann, mit mir zusammen zu sein. Überzeugt mich nicht vom Gegenteil .«
»Ich bin die Gefahr « , erklärte er ihr mit jetzt vor Wut angespannter Stimme. »Ich verletze niemanden außer mir selbst .«
Der Rauch aus dem Kamin schwand. Kamelien wuchsen jetzt aus allen Ritzen und Astlöchern in den Brettern auf dem Boden. Sie rankten sich um Jaus’ Stiefel und Lilings nackte Füße, kühl und weiß, weich und duftend.
Liling legte ihre Hand auf seine. »Dann unterlasst dieses ungehörige Verhalten und verbringt diesen Abend mit mir. Seid einfach mit mir zusammen .«
Jaus zog ihren Kopf unter sein Kinn, und seine Arme schlossen sich um sie, und während Liling die Umarmung akzeptierte, verschwand das Cottage um sie herum.
Sie öffnete die Augen und lag in Valentins Armen auf dem Bett hinten im Flugzeug. Sie konnte nirgendwohin,
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