Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
aus dem Artikel im Reader’s Digest genoss auch einen gewissen Ruf als Amme. Das heißt, Amme wäre übertrieben, aber sie meisterte die Aufgabe, diesen Findling großzuziehen, so hervorragend, dass andere junge Mütter sich an sie wandten und sie in Sachen Schwangerschaft und Kindererziehung um Rat baten. Und das, obwohl die gute Frau selbst wohlgemerkt nicht einmal verheiratet gewesen war. Doch stets, so hieß es in dem Artikel weiter, war sie bereit gewesen, alles stehen und liegen zu lassen und jemandem beizuspringen.
Ich muss sagen, das finde ich nicht ganz fair. Zunächst einmal war ich zehn Jahre alt und längst über das Flüssignahrungs- und Windelstadium hinaus, als ich in Tante Mames Fänge geriet. Wäre ich jünger gewesen, wer weiß, was sonst alles nicht passiert wäre.
Tante Mame war jedoch nur allzu gerne bereit, ihr eigenes Leben hintanzustellen und sich eines anderen Menschen anzunehmen, und obwohl sie nie ein eigenes Kind gehabt, geschweige denn Kinder um sich gehabt hat und Kinder eigentlich auch gar nicht leiden konnte, fühlte sie sich durchaus in der Lage, eine junge Frau während der Schwangerschaft zu begleiten.
Ich hätte nie gedacht, je wieder von dem glücklosen Brian O’Bannion und der noch glückloseren Agnes Gooch zu hören, aber da hatte ich mich geirrt. Anderthalb Jahre später drangen Agnes, höchstpersönlich, und Brian, in Vertretung, in mein Leben und meine schulische Laufbahn ein. Es war mein letztes Jahr an der St. Boniface Academy in Apathy, Massachusetts, und ich zählte die Tage bis zur Abschlussfeier, mit der ich aus diesem düsteren Institut entlassen werden würde. Im Frühjahr jedoch, an einem kühlen Nachmittag, als wir gerade von der Kirche zum Sportplatz marschierten– in St. Boniface wurde nicht zu Fuß gegangen, es wurde marschiert–, hörte ich aus einem Gebüsch ein Zischen, und ich drehte mich um und schaute nach. Alle anderen hatten es auch gehört und drehten sich um und schauten nach. Es war Ito. Seine Hand schoss hervor, steckte mir einen von Tante Mames großen blauen Umschlägen zu, und gleich tauchte Ito wieder in der schützenden Farbenpracht der Forsythie unter.
In den Umkleideräumen verdrückte ich mich rasch auf die Toilette, knallte die Tür zu und riss den Umschlag auf.
Darling, mein lieber Junge –
Du musst sofort kommen! Ich brauche dich. Ich erwarte dich, in Tarnkleidung, in Ye Olde Greene Shutters Sweete Shoppe.
Beeil dich!
Tante Mame
Ich wartete so lange, bis die Klassenkameraden hinaus auf die Aschenbahn getrabt waren, dann rannte ich weg, überwand die Mauer und lief durch die Nebenstraßen des Städtchens zu dem Tea Room.
Ye Olde Greene Shutters war der Treffpunkt der vornehmen Damenwelt von Apathy, die sich dort jeden Nachmittag versammelte, um eimerweise Tee und Butterscotch Sauce zu vertilgen. Es war gerammelt voll, als ich kam, aber es war nicht schwierig, Tante Mame auszumachen. Sie saß in einer düsteren Ecke, trug ein hautenges schwarzes Kostüm, einen großen schwarzen Hut mit ausladendem Schleier, dunkle Brille und ein Cape aus schwarzer Breitschwanzschafswolle. Zwischen all den schäbigen bedruckten Seidentüchern und Bernsteinketten um sie herum hätte sie, selbst barfuß bis zum Halse, auffälliger nicht sein können. Ich trat an ihren Tisch. » Tante Mame… «
» Oh, mein lieber Kleiner « , hauchte sie heiser, » deine Zielstrebigkeit macht noch jede Tarnung zunichte. Hättest du nicht etwas eher kommen können? «
» Was ist los, Tante Mame? « , fragte ich sie. » Was machst du hier in Apathy und wozu diese Tarnung? «
» Mein Kind, ich bin im Auftrag der Barmherzigkeit unterwegs, und ich brauche deinen starken Arm und deinen jungen agilen Verstand. «
» Eigentlich darfst du die Schule nicht schwänzen, Jungchen « , sagte der Kellner, » aber was darf es denn sein? «
» Ein Cheeseburger und eine Malzmilch mit Schokolade « , sagte ich.
» Nichts da « , sagte Tante Mame. » Bringen Sie mir die Rechnung. Wir gehen gleich. «
Nach der strengen Diät aus wässrigen Eintöpfen und Salpetersuppen war ich leicht verstimmt, aber zu neugierig, um zu streiten. » Was ist los, Tante Mame? « , fragte ich. » Was ist passiert? «
Sie setzte ihre dunkle Brille ab und sah mich durchdringend an. » Es geht um Agnes Gooch. Was habt ihr dieser armen unschuldigen Jungfrau bloß angetan? «
» Ich soll der was angetan haben? Die Brillenschlange habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen… «
» Ich meine nicht
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