Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
sich und kratzten sich am Kopf, als wir davonfuhren. Tante Mame, die sich zurücklehnte und hinter den Gardinen rauchte, ahnte zum Glück nicht, wie gut sie wirkte. Ich dagegen schon. Zunächst einmal war in Apathy noch nie ein Rolls-Royce oder ein Japaner gesichtet worden. Darüber hinaus verfügte St. Boniface über ein Spitzelsystem, dagegen sah der russische Geheimdienst blass aus. Wenn die Lehrer nicht in den Schulräumen Streife liefen, verrichteten sie ihre geheimdienstliche Tätigkeit in der Stadt. Aus einer Entfernung von drei Häuserblocks entdeckte ich den Englischlehrer, den Tennistrainer und den Anstaltsgeistlichen. Der Geistliche lüpfte sogar seinen Hut und verbeugte sich, als die große schwarze Limousine mit den vorgezogenen Gardinen vorbeifuhr.
Ich hatte solche Angst, außerhalb des Schulgeländes erwischt zu werden, dass ich auf Tante Mames Gerede gar nicht achtete. Hauptsächlich schwatzte sie irgendwelches Zeug über Mutterschaft, über die Schönheit und die Mysterien der Schwangerschaft und über die Gemütsruhe während der Wartezeit. Als ich sie fragte, woher ausgerechnet sie so gut Bescheid wüsste, sagte sie, ich solle nicht frech werden, und Agnes habe sich sehr verändert.
Natürlich hatte ich meine Bedenken, das Old Coolidge House zu betreten, aber Tante Mame wurde langsam unruhig und schubste mich durch den Eingang. Vor mir stand der Zimmerwart, ein bezahlter Informant von St. Boniface. Als er den Blazer meiner Schuluniform erkannte, fragte er mich gleich, ob ich einen Passierschein hätte, der mir erlaubte, mich außerhalb des Campus aufzuhalten. So eine Schule war das! » Selbstverständlich hat er einen! « , schnauzte Tante Mame ihn an und zerrte mich so schnell die Treppe hoch, dass er gar nicht mehr dazu kam, mich zu bitten, ob er ihn mal sehen dürfe.
Agnes persönlich öffnete uns die Tür zu ihrer Suite und schloss gleich wieder hinter uns ab. Tatsächlich, Agnes hatte sich sehr verändert, aber irgendeine mysteriöse Schönheit vermochte ich an ihrem Zustand kaum zu erkennen. In erster Linie war sie einfach nur ungeheuer dick. Außerdem hatte sie sich nie ganz von jenem Gastspiel in der Welt der feinen Mode erholt, das sie an jenem verhängnisvollen Silvesterabend in New York, als sie mit Brian durchgebrannt war, gegeben hatte. Nur hatte sie jetzt die Ateliers von Paris mit der Häkelschule von Kew Gardens vertauscht, so dass sie wie eine Kreuzung aus Halbweltdame und Wäschebeutel aussah. Agnes hatte sich ihre Umstandskleidung selbst genäht. Und sie hatte sich angewöhnt, viel Make-up aufzutragen, aber sie machte es schlecht. Wie blind herumtastend, ohne ihre biedere Brille auf der Nase, grell gekleidet und dirnenhaft geschminkt, sah sie ganz und gar nicht wie die geheimnisvolle Schöne aus, die Tante Mame mir angekündigt hatte, sondern wie eine » gefallene Frau « , die den gängigen Preis für Lust und/oder Unvorsichtigkeit bezahlte.
Ich konnte auch keine Anzeichen einer Vergeistigung oder von Gemütsruhe in ihr erkennen. Sie neigte schon immer dazu, sich selbst zu bedauern, auch ohne Berechtigung– jetzt hatte sie allen Grund dazu, und sie triefte geradezu vor Selbstmitleid. Sie schlang ihre Arme um mich und weinte herzerweichend, wobei die dick aufgetragene Wimperntusche in trüben Rinnsalen über das Rouge ihrer Wangen lief. Ihr gesamter Wortschatz schien nur aus Begriffen wie » törichtes Mädchen « , » Dummkopf « , » Dirne « oder » entehrte Frau « zu bestehen. Ich wüsste nicht, als was ich es sonst bezeichnen sollte, aber Agnes war ein Wrack.
Während Agnes Selbstbezichtigung betrieb, legte Tante Mame einen Teil ihrer Tarnung ab, fuhr sich einmal durchs Haar, ließ sich auf das Empiresofa im Empfangszimmer fallen, klingelte nach unten und bestellte Erfrischungen– Eierlikör für Agnes, für mich Tee und sich selbst einen Cognac. » Putzen Sie sich die Nase, Agnes « , sagte Tante Mame barsch, » und hören Sie auf zu heulen. Sie wissen doch, dass mich das aufregt. Also, mein lieber Kleiner, da wären wir. Du siehst, es wird alles ganz einfach sein. Wir sind, für jeden sichtbar, eine hübsche saubere Kleinfamilie, geachtet und geehrt. «
Nach diesen Worten brach Agnes vollends in Tränen aus. » Hören Sie auf damit, Agnes! « , sagte Tante Mame. » Das tut weder Ihnen noch dem Baby gut. Sie werden noch dehydrieren, wenn Sie so weitermachen. Also, wie gesagt « , wandte sie sich wieder an mich, » da wären wir also– eine geheimnisvolle Witwe,
Weitere Kostenlose Bücher