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Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman

Titel: Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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vergammelter Putzlappen, und er schnarchte. Eins allerdings muss ich zu seinem Vorteil sagen, er hatte einen gesegneten Schlaf. Das erleichterte es mir enorm, mich nachts davonzuschleichen.
    Meine Pflichten entwickelten sich zu einer Art Routine. Nachdem ich zuerst einen Schulkameraden dazu überredet hatte, bei dem Anwesenheitsappell auf dem Sportfeld für mich zu antworten, schlich ich mich für gewöhnlich jeden Nachmittag um drei Uhr davon. Ich begab mich zum Hotel, erklomm das Seil zu Tante Mames Suite und erledigte die jeweiligen Besorgungen, die sie mir auftrug. Für die größeren Einkäufe fuhr ich zweimal die Woche nach Boston. Das Auto erregte ungefähr so viel Aufsehen wie eine Dampfpfeifenorgel, aber ich hatte eine Vorsichtsmaßnahme getroffen und mich ebenfalls getarnt– Tweedjackett, einen flachen Herrenfilzhut und eine Krawatte zum Anklipsen von Filene–, damit man mich nicht schon aus der Ferne an der St.-Boniface-Mütze, dem Schulblazer und der Krawatte erkannte. Hinzu kam eine dunkle Brille. Tante Mame befand, ich sähe unsäglich primitiv darin aus, warum ich mich nicht bei J. Press mit etwas Schickerem eingekleidet hätte. Immerhin war es mir gelungen, an der Frau des Schulleiters vorbeizugehen, ohne dass sie mich erkannte.
    In einem Punkt hatte Tante Mame Recht: Es war sehr einfach, nachts auszubüxen. Vor meinem Fenster stand ein Baum, und ich brauchte nur auf Juniors asthmatisches Schnarchen zu warten, meine Zivilkleidung aus dem Versteck zu holen, ein Kissen so zu formen, dass es aussah, als läge ich im Bett, und zu türmen.
    Das Einzige, was mir ein schlechtes Gewissen bereitete, war Mr. Pugh. Er war Fluraufseher, und er war der einzige Mensch an der ganzen Schule, der zumindest den Anschein erweckte, als hätte er etwas für Kinder übrig und unterrichtete gern. Er war ein langer, schlaksiger, etwas verklemmt-verstaubter Kerl um die vierzig, mit einem Adamsapfel, groß wie ein Entenei, und einer wahren Leidenschaft für Poesie, Kunst und Musik, Natur und Kinder. Vielleicht hört er sich nach dieser Beschreibung nicht ganz sympathisch an, aber auf seine etwas spröde Art war er ein ziemlich netter Kerl. Er war freundlich und verständnisvoll, sanft und still, und nie bekamen wir bei ihm einen Tadel, nur wenn es absolut unumgänglich war. Ich wusste, wenn sie mich schnappten, war auch der gute alte Pugh in der Bredouille. Dennoch, die Treue zur Familie– und eine Europareise– standen an erster Stelle.
    Gegen zehn Uhr abends kam ich meist beim Old Coolidge House an, stellte mich unter dem Fenster auf und pfiff. Das war das Signal für Agnes, in ihre Wanderschuhe zu steigen und sich auf den Weg zu machen. Agnes bot auch vorher schon keine anregende Gesellschaft, auch wenn sie nur über die Arthritis ihrer Mutter, ihre Schwester Edna und Kew Gardens und die Versicherungsgesellschaft sprach. Jetzt redete sie nur darüber, dass man sie betrogen hatte; dass sie für den Rest ihres Lebens als Sünderin gebrandmarkt sei; dass die unschuldige kleine Seele unter ihrem Herzen– Agnes’ eigene Worte– das Zeichen unehelicher Geburt tragen müsse; dass Brian O’Bannion kein Gentleman sei– ein hübsches Understatement, wie ich fand. Und dass ihr die Füße wehtaten. Ein-, zweimal, wenn ich einen Lehrer aus meiner Schule sah, unterwegs zum örtlichen Puff oder einer Bar oder dem Hotel, musste ich Agnes ins Gebüsch zerren, aber im Großen und Ganzen zeichneten sich unsere Spaziergänge nur durch ihre Eintönigkeit aus.
    Wieder zurück im Hotel, kletterte ich das Seil hinauf, und wir spielten Bridge zusammen– versuchten es wenigstens, während Agnes wimmerte und Ito kicherte und sich viel zu sehr auf das seelische Reizen verließ. Tante Mame sorgte noch für eine gut gefüllte Bar in Reichweite des Bridgetisches– das gebe dem Ganzen so einen gediegenen Rahmen, behauptete sie–, obwohl sie die Einzige war, die überhaupt etwas trank.
    Gegen zwei Uhr morgens wurde ich entlassen, durfte das Seil hinuntergleiten, zurück zur Schule trotten, die Mauer überwinden, den Baum erklimmen und mich zu Bett begeben. Da der Tag in der St. Boniface Academy für alle morgens um sechs Uhr mit einer kalten Dusche und Gymnastik begann, musste ich mit maximal drei Stunden Schlaf auskommen. Mehr als einmal nickte ich während des Unterrichts ein und bekam einen Tadel und musste eine Strafpredigt über mich ergehen lassen, ich solle mich an die Spielregeln halten. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und die

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