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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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könnten seine Gedanken lesen. »Und Warum hast du deine Schwestern damals überhaupt verlassen?« Wieder einmal spürte er die Versuchung, die ganze Angelegenheit der Polizei in Gestalt von Bronagh, der furchtlosen Kämpferin gegen das Verbrechen, und ihren kleinen Helfern zu übergeben. Und wieder brachte er es nicht über sich. Mr. Raichoudhury, wo immer er auch sein mochte, würde seinen weisen alten Schädel schütteln und mit den Fingern auf die Gürtelschnalle seines Großvaters trommeln. Ich weiß, dass ich gegen Ihren Rat handle, hätte Niall ihm am liebsten gesagt. Und trotzdem, Sir, kann ich diese Bilder nicht aus meinem Kopf vertreiben. Nicht, nachdem ich zwei Tagebücher gelesen habe, die mit unsichtbaren Tränen und Blut geschrieben wurden. Und deshalb muss ich meine Reise zu Ende bringen, wo sie mich auch hinführen mag. Das ist jetzt mein Job. Vielleicht spazieren Sie in ein paar Jahren über einen Marktplatz und sehen mich vor einem Bild sitzen, das ich mit meinem letzten Atemzug zum Leben erwecken will. Wir werden sehen, Sir.
    Der Wind hatte ein loses Stück Dachpappe erwischt und ließ es spielerisch knallen. Niall sah sich um. Er musste hier weg, aber er wollte auf keinen Fall Mr. Cremins Söldnern in die Arme laufen. Er sah sie immer noch, helle Haarschöpfe in einem grünen Meer. Sie suchten die Flanke des Hügels nach ihm ab und versperrten den Rückweg in die Stadt.
    Er musste also nach Westen, in Richtung Eyeries gehen. Aber das war kein Problem.
    Denn unter einem Baum ohne Krone hatte Roisin einen scharfen Gegenstand vergraben.
    Verlieren verborgene Schätze ihren Zauber, wenn sie ans Tageslicht gebracht werden? Oder behält ein Gegenstand, der von dem Menschen berührt wurde, der ihn vergraben hat, eine Art Magie, die nie verblasst?
    In Jims Fall wäre selbst ein Kaugummipapierchen nach seiner Entdeckung zu einer Reliquie gemacht worden.
    Niall dachte an die Messerklinge, die Jims Herz und seine Lunge durchbohrt hatte. Er entschied, dass nicht die Waffe selbst von Wert war, sondern der Mythos, der sie inzwischen umgab. Als er bei dem Ort ankam, an dem der seanchai seinen letzten Atemzug getan hatte, wusste er, dass er recht hatte. Fanatische Bewunderer hatten den Baum, an dem ihr Idol sein Leben ausgehaucht hatte, in einen Altar für Phantasien von Sex und Tod verwandelt.
    Elvis und JFK konnten dagegen einpacken. Die Rinde war am halben Stamm abgerissen, und alle weniger als armdicken Zweige waren abgebrochen und als Souvenirs mitgenommen worden. An einem der wenigen verbliebenen Zweige hing ein BH neben einer laminierten Postkarte mit den Worten: LIEBE BLEIBT FÜR IMMER. ICH DENKE AN DICH, DARLING JIM. KÜSSE VON HOLLY AUS NEBRASKA. Einige Mädchen hatten Fotos von sich aufgehängt und ein Jahrbuch gestaltet, das unendlich fortgeführt werden konnte. Das jüngste Gesicht schien kaum zehn Jahre alt. Schiefe Zähne, Sommersprossen und Träume von einer gefährlichen Leidenschaft. Das Gras war längst zu Schlamm geworden. Bierdosen und Zigarettenkippen lagen überall wie frisch gefallener, schmutziger Schnee verstreut. Es regnete in Strömen, wahrscheinlich der einzige Grund, aus dem keine Trauergemeinde hier weint, dachte Niall.
    Er sah sich um und versuchte, einen Baum ohne Krone zu finden.
    Im Regen war das Unterholz dunkel, und die Baumstämme sahen alle gleich aus. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis er den Ort fand, den Roisin beschrieben hatte, denn die kopflose Eiche war in der Zwischenzeit völlig abgestorben. Ihr einziger Ast war so verschrumpelt wie ein uralter Apfelbutzen. Nialls verletzter Knöchel pochte und schickte weiß glühenden Schmerz in sein Rückgrat. Als Niall eine gebeugte, alte Eiche weiter oben am Abhang entdeckte, fiel ihm auf, wie sehr dieser Ort demjenigen in Jims Märchen glich, an dem der alte Wolf Prinz Euan angegriffen und mit einem Fluch belegt hatte. Niall sah sich um, aber außer nassen Zweigen, die im Wind aneinanderklatschten, war nichts zu sehen. Er fragte sich beiläufig, ob er vielleicht lernen könnte zu verstehen, was die Bäume ihm zu sagen hatten. Hm, dass er diese Frage stellte, zeigte eindeutig, dass er schon viel zu lange in West Cork war. Er kniete sich zwischen die Wurzeln, die wie verknorpelte, sonnengebräunte Knöchel aus dem Boden ragten, und begann, mit den Händen zu graben. Der nasse, schleimige Erdboden gab mit einem schmatzenden Geräusch nach. Willst du das wirklich tun?, schien er zu fragen. Hau lieber ab, bevor dich hier jemand

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